Gerard David, Zeichner

Weiblicher Kopf, um 1505 - 1510

Die wenigen erhaltenen Zeichnungen Gerard Davids sind größtenteils – wie die Verso-Skizze – in Metallstift auf grundiertem Papier gearbeitet.(Anm.1) Aus diesem Grund akzeptierten Winkler und Pauli Davids Autorschaft nur für die Rückseite des Blattes. Ihre Zweifel an der Authentizität der Recto-Zeichnung bilden jedoch die Ausnahme. Van Migroet hielt den Mädchenkopf für „eine der geglücktesten Zeichnungen Davids“.(Anm.2) Infrarotuntersuchungen vergleichbarer Madonnenköpfe auf Gemälden Davids ließen in der Schraffuranlage annähernd identische Unterzeichnungen zutage treten.(Anm.3) Offensichtlich handelt es sich bei dem idealtypischen Gesicht um ein Werkstattmodell, vom Künstler geschaffen als Musterblatt für die Anlage entsprechender Typen in Gemälden und Manuskriptillustrationen.(Anm.4) Diese Funktion erklärt den wenig skizzenhaften Charakter der Zeichnung und die ungewöhnliche Verwendung von Feder und Pinselspitze. Dass unser Blatt tatsächlich entsprechend genutzt wurde, erkennt man an den mit Griffel nachgezogenen Konturen.(Anm.5)
Der Männerkopf auf dem Verso wurde vermutlich, wie die Skizzen des „Klinkosch-Skizzenbuches“, nach dem lebenden Modell gezeichnet. Ein verwandter Gesichtstypus begegnet auf der linken Tafel des 1498 entstandenen „Urteil des Cambyses“ in dem – allerdings bärtigen – Zuschauer am linken Bildrand.(Anm.6) Vielleicht diente die Porträtskizze als Ausgangspunkt für diese Figur. Die Baumstudie, zart angelegt und gleichwohl von ausgeprägtem Gespür für die Wirkung von Wind, Licht und Schatten, entstand sicherlich in freier Natur und zählt damit zu den frühesten Arbeiten ihrer Art.(Anm.7) Die prominente Rolle von Landschaftsmotiven im Œuvre Davids setzt eine größere Anzahl heute verlorener Landschaftsskizzen voraus. Neben dem Hamburger Blatt ist jedoch nur eine weitere dieser Studien erhalten, auf der Rückseite des zu der Klinkosch-Gruppe gehörenden Pariser Mädchenporträts.(Anm.8) Ähnlich schlanke, parallel nebeneinander gesetzte Stämme mit hoch angesetzten Ästen begegnen im linken Hintergrund einer „Ruhe auf der Flucht“ in Washington.(Anm.9) Die lockeren Strukturen der Zeichnung lassen sich ebenfalls in der Anlage entsprechender Unterzeichnungen nachweisen, z. B. der um 1505 angesetzten „Auferstehung Christi“, oder der zwischen 1502 und 1508 entstandenen „Taufe Christi“.(Anm.10)

Annemarie Stefes

1 Vgl. Zeichnungen aus dem sogenannten „Klinkosch-Skizzenbuch“, u. a. in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 170 dR und Inv.-Nr. 3812; Frankfurt am Main, Städel Museum, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 6916; vgl. H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989, S. 135.
2 H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989, S. 138.
3 Maryan Wynn Ainsworth: Northern Renaissance Drawings and Underdrawings: A proposed method of study, in: Master Drawings 37, 1989, S. 5-38, S. 22–23, „Madonna mit Kind und vier Heiligen“, Pasadena, Kalifornien, Norton Simon Foundation, um 1515/20, H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989, S. 5-38, S. 5-38, Nr. 41; vgl. auch die Miniatur in New York, The Pierpont Morgan Library, Inv.-Nr. Ms. M.659, H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989, S. 5-38, Nr. 86, um 1505/10, deren Zuschreibung an David durch den Zusammenhang mit unserer Skizze gesichert wird.
4 Griffelspuren finden sich über den Konturen von Gesicht und Nase sowie am Binnenkontur des Mundes und rechts des Gesichts; vgl. ebd. und Maryan Wynn Ainsworth: Northern Renaissance Drawings and Underdrawings: A proposed method of study, in: Master Drawings 37, 1989, S. 5-38, S. 19–21.
5 Ebd. S. 22; die Striche links dienten offenbar dazu, die Pinselspitze zu formen oder den Tintenfluss zu prüfen.
6 Brügge, Groeningemuseum, Inv.-Nr. 0.40, H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989, Nr. 19.
7 Vgl. Maryan Wynn Ainsworth: Northern Renaissance Drawings and Underdrawings: A proposed method of study, in: Master Drawings 37, 1989, S. 5-38, S. 31.
8 Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 170 dR, von Maryan Wynn Ainsworth: Northern Renaissance Drawings and Underdrawings: A proposed method of study, in: Master Drawings 37, 1989, S. 5-38, S. 19, um 1505/10 datiert.
9 Washington, National Gallery, Andrew W. Mellon Collection, Inv.-Nr. 43, H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989, Nr. 36, um 1515. Die Madonna dieses Gemäldes wiederum erinnert an die Recto-Zeichnung, ebenso wie die Madonnen auf weiteren gemalten Darstellungen des Themas in Madrid, Museo del Prado, Inv.-Nr. 2643, H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989, Nr. 35 und Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen, Inv.-Nr. 2446, H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989, Nr. 39. Darauf verweisen H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989 und Hand, in: John Oliver Hand, J. R. Judson, William W. Robinson, Martha Wolff: The Age of Brueghel. Netherlandish Drawings in the Sixteenth Century, Ausst.-Kat. Washington D.C., National Gallery of Art, New York, Pierpont Morgan Library, New Haven 1986, S. 132.
10 New York, Metropolitan Museum of Art, Robert Lehman Collection Inv.-Nr. 1975.1.119; Groeningemuseum, Brügge, Inv.-Nr. 0.35, H. J. Van Miegroet: Gerard David, Antwerpen 1989, Nr. 23.

Details zu diesem Werk

Feder und Pinselspitze in Schwarz über Metallstift, Spuren von schwarzer Kreide und weißer Deckfarbe auf graubraunem Papier; Griffelspuren 142mm x 104mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21575 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

Wir sind bestrebt, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir über Kunst und unsere Sammlung sprechen und diese präsentieren. Daher freuen wir uns über Ihre Anregungen und Hinweise.

Feedback
Weitere Werke von
Gerard David