Girolamo da Carpi (Umkreis)

Figurenstudien

Harzen schrieb das wohl von fremder Hand bezeichnete Blatt Girolamo da Carpi zu. Irrtümlicherweise wurde die Zeichnung dann lange Zeit im Kabinett unter Ugo da Carpi abgelegt. Typisch für Girolamo ist die feingliedrige Zeichenweise, mit der die Figuren skizziert werden. Charakteristisch ist auch der weitgehende Verzicht auf intensive Binnenschraffierung und genauere Charakterisierung der Physiognomien. Letztlich spricht auch das Thema des Blattes – die Dokumentation antiker Figuren – für Carpi, handelt es sich doch um ein Genre, das um die Mitte des 16. Jahrhunderts kaum ein zweiter Künstler in Italien mit so großer Intensität gepflegt hat. Trotz dieser vielfältigen Argumente, die für eine Zuschreibung an Carpi sprechen, bleiben Zweifel an der Authentizität des Blattes.
Gudrun Dauner hat darauf aufmerksam gemacht, dass neben den für Carpi unzweideutig gesicherten großen Gruppen von Antikenzeichnungen in Philadelphia und Turin weltweit zahlreiche andere Blätter in verschiedenen Formaten und Ausführungen nachweisbar sind.(Anm.1) Einige sind Girolamo selbst zuzuschreiben, andere Künstlern, die seiner Werkstatt angehörten oder ihm nahestanden. All diese Zeichnungen kann man grob in mehrere Gruppen unterteilen, von denen eine als „Quadratisches Skizzenbuch“ bekannt ist. Die Künstler hatten wahrscheinlich Zugriff zu Carpis römischen Skizzenbüchern, denn häufig sind die dargestellten Motive daraus kopiert.
Das Hamburger Blatt dürfte ebenfalls zu dieser Gruppe gehören. Sein Format ist breiter als das der Blätter in Philadelphia und Turin; ursprünglich dürfte es noch breiter gewesen sein, da die Gruppe auf dem Verso eindeutig beschnitten worden ist. Im Vergleich zu den oben genannten Beständen wirkt es relativ trocken. Jene sind zumeist etwas lebendiger gezeichnet, häufig auch durch gefällige Lavierung akzentuiert.
Auch die Art der Zusammenstellung der Motive auf dem Hamburger Blatt ist unterschiedlich zu den Blättern in Philadelphia und Turin und ähnelt auffallend Studienzeichnungen, die als Kopien identifiziert werden konnten.(Anm.2) Vor diesem Hintergrund ist es wenig wahrscheinlich, dass hier eine eigenhändige Zeichnung Carpis vorliegt. Plausibler erscheint es dagegen, das die Antikenstudien im unmittelbaren Umkreis des Künstlers nach dessen Vorlagen entstanden sind.
Hierauf deutet z. B. eindeutig der untere Bereich des Blattes hin. Dort sieht man links eine archaische Figur Apolls mit Chiton und kurzem Mantel.(Anm.3) Carpi dokumentiert diese heute im Museo Pio Clementino im Vatikan bewahrte Statue als Ganzfigur, während sie auf dem Hamburger Blatt nur halb und zudem etwas weniger detailliert erscheint. Der Profilkopf daneben erweist sich als Zitat einer Gruppe vom heute im Louvre aufgestellten „Zwölfgötteraltar“.(Anm.4) Von diesem Ensemble befinden sich wiederum zwei Figuren auf jenem Blatt in Carpis Rosenbach-Album, das auch den Apoll zeigt. Demnach hat der anonyme Kopist zwei Details von Carpis Vorlage übernommen. Auf eine Vorlage des Künstlers geht sicherlich auch die rechte Standfigur des Hamburger Blattes zurück. Sie lässt sich in nahezu identischer Form auf einer Carpi zugeschriebenen Zeichnung im Vatikan nachweisen.(Anm.5)
Auch die mit zwei Köpfen dargestellte Sitzfigur der Prudentia wirkt auf den ersten Blick wie eine Antikenrezeption. Hier hat Carpi aber offensichtlich eine Erfindung des Raffael-Kreises aus der Sala di Costantino in den Stanzen des Vatikans nachgezeichnet.(Anm.6) Es handelt sich um eine Figur, die zur Rechten des Papstes Damasus I. sitzt. Die Übereinstimmung ist groß und geht teilweise bis ins Detail. Lediglich unwesentliche Abweichungen, wie die Stellung des kleinen Fingers der rechten Hand, sind festzustellen. Diese können aber auf die Schwierigkeiten des Kopierens vor Ort zurückzuführen sein. Während die beigefügten Attribute wie der Spiegel, die Schlange und das zweite Gesicht (der Kopf weist ein weibliches und ein männliches Gesicht auf) traditionell zur Ikonographie der Prudentia zählten, war die Darstellung als Minerva (man beachte den Helm und das Medusenhaupt) im frühen 16. Jahrhundert ungewöhnlich. In dieser Kombination von Prudentia-Minerva scheint eine Anspielung auf den für die Stanzen wegweisenden Papst Leo X. Medici enthalten gewesen zu sein.(Anm.7)

David Klemm

1 Drawn Together. Two Albums of Renaissance Drawings by Girolamo da Carpi, bearb. v. Gudrun Dauner, hrsg. v. Nicolas Barker, Derick Dreher, Ausst.-Kat. Philadelphia Rosenbach Museum & Library, Philadelphia 2005, S. 118, Nr. 45.
2 Ebd. Vgl. auch ein im Auktionshandel angebotenes Blatt, das eine ähnliche Anordnung mit Sitzfigur oben links und rechts daneben eine Standfigur aufweist. Vgl. Aukt.-Kat. London, Christie’s, Old Master Drawings, 2. 7. 1991, S. 25, Nr. 239, Abb. S. 24.
3 Philadelphia, Rosenbach Foundation, Roman Sketchbook, R 10; vgl. Norman W. Canedy: The Roman Sketchbook of Girolamo da Carpi, Studies of the Warburg Institute, hrsg. v. Ernst H. Gombrich, Bd. 35, London, Leiden 1976, S. 35, R 10.
4 Ebd.
5 Vatikan, Biblioteca Vaticana, Ashby Coll. f. 136r. Vgl. From Leonardo to Rembrandt. Drawings from the Royal Library of Turin, hrsg. v. Gianni Carlo Sciolla, Ausst.-Kat. Galleria Reale, Turin 1990, S. 154–157, Nr. 61; vgl. Abb S. 156.
6 Zur Ikonographie der Figur vgl. Rolf Quednau: Die Sala di Costantino im Vatikanischen Palast. Zur Dekoration der beiden Medici-Päpste Leo X. und Clemens VII. Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 13. Hildesheim, New York 1979, S. 259–261.
7 Rolf Quednau: Die Sala di Costantino im Vatikanischen Palast. Zur Dekoration der beiden Medici-Päpste Leo X. und Clemens VII. Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 13. Hildesheim, New York 1979, S. 260–261.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun 280mm x 170mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21566 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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