Michelangelo (Kopist), zugeschrieben
Michelangelo Buonarroti, Kopie

Studien zum Martyrium der Zehntausend, um 1510/20

Die Zeichnung mit der Darstellung von sieben gekreuzigten Männern gelangte vor 1900 aus unbekannter Quelle in die Sammlung. Sie blieb lange Zeit völlig unbeachtet, bis Rolf Kultzen 1966 in einer eingehenden Untersuchung erstmals die darauf erkennbare „umfassende Auseinandersetzung mit dem frühen Figurenstil Michelangelos“ hervorhob. Er sah in dem Blatt eine Kopie nach einer in Madrid bewahrten Zeichnung Alonso Berruguetes (1486–1561).(Anm.1) Diese außerordentlich schlecht erhaltene Zeichnung zeigt einen nahezu identischen Bildausschnitt, ist aber in etwas anderer Technik ausgeführt, vor allem mit viel stärkerer Lavierung versehen. Das Blatt wurde von der Berruguete-Forschung in die 1520er Jahre des Künstlers datiert.(Anm.2) Allerdings ist kein Auftrag für ein derartiges Gemälde überliefert. Die Verbindung zu Michelangelo ist nicht nur durch den allgemeinen Einfluss dieses Künstlers zu erklären, sondern wird auch dadurch gestützt, dass Berruguete eine Zeit lang in direktem Kontakt mit Michelangelo stand und nachhaltig von ihm geprägt wurde. Neben den Blättern in Hamburg und Madrid gibt es eine weitere Zeichnung in Madrid, die dieselbe Komposition überliefert.(Anm.3) Sie wurde auf geöltem Papier wohl im 18. Jahrhundert ausgeführt und steht der Hamburger Zeichnung hinsichtlich des Bildausschnitts und der Zeichentechnik sehr nahe.(Anm.4) Paul Joannides hat zur Erklärung dieses Phänomens die These aufgestellt, dass für alle drei Zeichnungen eine verlorene Komposition Michelangelos als Vorbild gedient haben könnte.
Obgleich es keinerlei Hinweis auf ein Auftragswerk mit diesem Thema gibt, kann plausibel angenommen werden, dass Michelangelo sich intensiv mit einem derartigen Thema befasst hat. Generell hatte er sicher ein starkes Interesse, Menschen mit verzerrten, verdrehten, gepeinigten Körpern darzustellen. Solch eine „school of the world“ (Anm.5) hätte künstlerisch vielleicht eine noch größere Herausforderung dargestellt als die Schlacht von Cascina. Für Joannides’ Vermutung spricht, dass die dreifach überlieferte Komposition eindeutig michelangeleske Züge aufweist. Die Bildgestaltung macht aber auch deutlich, dass es sich hier nur um einen Ausschnitt handeln kann, denn auf der linken Seite fehlt ein Gegengewicht zu der starken Gruppe rechts. Hinzu kommt, dass keinerlei Andeutung des Erdbodens erkennbar ist. Eine derart ausschnitthafte Darstellung ist aber für Michelangelo eher unwahrscheinlich. Joannides wies zudem auf den Einfluss der 1506 entdeckten Laokoon-Gruppe hin, die Michelangelo als einer der ersten gesehen hat.
Neben den bislang vorgestellten drei Blättern gibt es eine Reihe weiterer, allesamt Michelangelo zugeschriebener Zeichnungen, die in Zusammenhang mit einem Martyrium gesehen werden können. Die von Joannides akribisch zusammengetragenen Beispiele ergeben zwar insgesamt keine vollständige Komposition, sie machen aber eine intensive Beschäftigung Michelangelos mit einem derartigen oder sehr ähnlichen Thema wahrscheinlich.
In der Summe aller Argumente und Beispiele erscheint es demnach durchaus möglich, dass sich Michelangelo um 1506 – also kurz nach der Schlacht von Cascina und wenige Jahre vor dem Beginn der Arbeit in der Sistina – intensiv mit einem Martyrium der Zehntausend beschäftigt hat. Vor diesem Hintergrund wäre die Entstehung des Hamburger Blattes um 1510 – wie Joannides vorschlug – zwar denkbar, aber zeitlich vielleicht etwas eng gefasst. Eine genauere Datierung wie auch die Eingrenzung des anonymen Zeichners ist bislang nicht möglich. Eine Entstehung im engeren Umkreis Michelangelos ist aber wahrscheinlich. Kultzen plädierte auch für eine italienische Herkunft und verband das Blatt mit der Zeichnung „Christus an der Geißelsäule“ in den Uffizien, die Alfonso Berruguete oder dessen engem Umkreis zugeschrieben wird.(Anm.6) Carel van Tuyll und Nicholas Turner dachten an Peruzzi, während Achim Gnann eine norditalienische Herkunft vorschlug. (Anm.7)

David Klemm

1 Madrid, Real Academia di San Fernando, Inv.-Nr. 2110; vgl. Paul Joannides: Bodies in the trees: a mass-martyrdom by Michelangelo, in: Apollo 140, 1994, Nr. 393, S. 3-14, S. 5, Abb. 5.
2 Vgl. JPaul Joannides: Bodies in the trees: a mass-martyrdom by Michelangelo, in: Apollo 140, 1994, Nr. 393, S. 3-14, S. 6.
3 Madrid, Museo de la Moneda, Inv.-Nr. 1980. Vgl. Paul Joannides: Bodies in the trees: a mass-martyrdom by Michelangelo, in: Apollo 140, 1994, Nr. 393, S. 3-14, S. 4, Abb. 3.
4 Paul Joannides: Bodies in the trees: a mass-martyrdom by Michelangelo, in: Apollo 140, 1994, Nr. 393, S. 3-14, S. 27, bezeichneten das Hamburger Blatt als Kopie nach der Studie von S. Fernando. Dies ist aber schon aufgrund der völlig unterschiedlichen Zeichentechnik auszuschließen.
5 JPaul Joannides: Bodies in the trees: a mass-martyrdom by Michelangelo, in: Apollo 140, 1994, S. 13.
6 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 10286; vgl. Diego Angulo, Alfonso E. Pérez Sánchez: Spanish Drawings 1400-1600. A corpus of Spanish Drawings, Bd. 1, London 1975, S. 26, Nr. 57.
7 Anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun 329mm x 253mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21561 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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