Marco Zoppo, eigentlich Marco Antonio di Ruggero

Maria mit dem Christuskind; Maria mit dem Christuskind und dem Johannesknaben; Gruppe von drei stehenden Männern (Studienblatt aus dem sogenannten Madonna-Skizzenbuch), um 1470

Das großformatige, beidseitig bezeichnete Blatt gelangte durch Georg Ernst Harzen mit der Zuschreibung an Marco Zoppo in die Sammlung. Diese kennerschaftliche Einordnung ist insofern bemerkenswert, als sich um 1860 die Erforschung von Zoppos Œuvre noch in den Anfängen befand. Grundlage der Beschäftigung mit dem Künstler war damals eine 1795 von Francesco Novelli publizierte Sammlung von Stichen nach Zeichnungen, die er „Disegni di Mantegna“ nannte.(Anm.1) Bereits 1796 äußerte ein Freund Novellis, der venezianische Sammler Giovanni Maria Sasso, die Vermutung, dass es sich eher um Werke Marco Zoppos handele. Abgesehen von dieser frühen Einschätzung war es offensichtlich Harzen, der als erster Zeichnungen von Zoppo richtig zuschrieb. Dies ist ein Ergebnis seiner intensiven Beschäftigung mit der oberitalienischen Kunst des Quattrocento. Harzen hat die Novelli-Ausgabe besessen, und belegt ist auch ein Gedankenaustausch mit dem British Museum, dem der Sammler eine weitere Ausgabe Novellis aus seinem Besitz geschenkt hat.
In der Nachfolge der von Roger Fry und Campbell Dodgson 1905 begonnenen Forschungen hat Giuseppe Fiocco 1933 mehrere Zeichnungen in verschiedenen Sammlungen Europas – allesamt mit Mariendarstellungen – zu einer Gruppe zusammengefügt.(Anm.2) Er stellte als erster die Hypothese auf, dass diese Zeichnungen aus einem gemeinsamen Zeichenbuch stammen, das heute als „Madonna-Skizzenbuch“ bekannt ist. Dank der Forschungen von Erich Ruhmer und Lilian Armstrong konnten die Kenntnisse zu diesem Buch vertieft werden.(Anm.3) Alle Zoppo zugeordneten Blätter sind in Feder und brauner Tinte, zum Teil mit brauner Lavierung, auf leicht rötlich gefärbtem Papier ausgeführt und beidseitig bezeichnet.(Anm.4) Allerdings sind nur noch drei Blätter, zu denen die Hamburger Zeichnung zählt, weitgehend unversehrt, zwei andere stellen die obere und untere Hälfte eines ehemals zusammengehörigen Blattes dar; darüber hinaus existieren noch drei Fragmente einzelner Zeichnungen.
Die drei erhaltenen Blätter stimmen in den Maßen weitgehend, aber nicht genau überein. So stellt die Hamburger Zeichnung (254 x 171 mm) gegenüber denen in London (274 x 182 mm) (Anm.5) und Braunschweig (265 x 190 mm) (Anm.6) das kleinste Blatt dar. Dieser Unterschied könnte auf eine spätere Beschneidung zurückzuführen sein.
Das Hamburger Blatt lässt sich in stilistischer Hinsicht sehr gut den anderen Blättern der Gruppe zuordnen. Chapman betonte, dass für alle Zeichnungen starke Konturen und nachdrückliche Querschraffuren typisch seien.(Anm.7) Gegenüber dem in London bewahrten anderen Skizzenbuch Zoppos, dem sogenannten Rosebery-Album, sind die Züge von geringerer linearer Eleganz; die Blätter nähern sich durch stärkere Licht-Schatten-Anlage mehr einem bildhaften Charakter. Diese Entwicklung dürfte auf Zoppos Venedig-Aufenthalt in der Mitte der 1460er Jahre und dem damit verbundenen Einfluss von Giovanni Bellini zurückzuführen sein.
Die Zeichnungen können daher wohl zu Recht in die späten 1460er Jahre oder in die erste Hälfte der 1470er Jahre datiert werden. Chapman betonte, dass dieser Ansatz durch einen Vergleich mit späten Gemälden – so der „Madonna“ in Washington – gestützt werde. So ähnle der ovale Gesichtstypus Marias mit der vorstehenden Stirn dem der Zeichnungen. Zudem gibt es Übereinstimmungen in der Pose des stehenden Christus.
Ganz unstrittig ist die große stilistische Nähe der Madonna auf dem Verso des Hamburger Blattes mit der auf dem Braunschweiger Verso. Beide Figuren dürften nahezu zeitgleich entstanden sein, wobei Armstrong das Hamburger Blatt etwas später einstuft. Die Zeichnungen auf dem Recto wirken dagegen etwas freier als die früheren Studien und verdeutlichen eine neue Tendenz, mehrere Szenen auf einem Blatt zu versammeln.
Ruhmers Vorschlag, das Hamburger Blatt bereits in die erste Hälfte der 1460er Jahre zu datieren, stützt sich auf den Vergleich einzelner Motive mit Bildelementen auf Gemälden, die wohl in den 1460er Jahren entstanden sind.(Anm.8) So erinnert das Motiv der thronenden Maria an die Haltung der Muttergottes auf dem Hauptbild des Altars der Kirche San Clemente in Bologna.(Anm.9) Ähnliches gilt auch für das Motiv der sich zurückwendenden Maria – es findet sich in vergleichbarer Form auf einer Predellentafel des Altars von San Clemente. Da es sich aber in keinem Fall um eine eindeutige Entsprechung handelt, liegt kein zwingender Grund vor, die stilistisch überzeugend begründete spätere Datierung aufzuheben. Außerdem gibt Ruhmer selbst die Ähnlichkeit eines musizierenden Engels mit einem Engel auf dem erst um 1479 datierten „Schmerzensmann“ in Pesaro an. Unabhängig von diesen Widersprüchen ist wenig wahrscheinlich, dass ein Einzelblatt innerhalb eines Skizzenbuches fünf bis zehn Jahre früher als die unmittelbar umgebenden Blätter entstanden sein soll.
Es ist ein Charakteristikum des „Madonna-Skizzenbuches“, dass sich die dargestellten Figuren nur schwer mit Gemälden verbinden lassen. Allerdings ist der überlieferte Bestand an Madonnenbildern aus der Spätzeit des Künstlers mit nur zwei Beispielen – in Washington und Altenburg – sehr gering. Denkbar ist immerhin, dass eines der von Malvasia erwähnten fünf Halbfiguren-Bildnisse der „Madonna mit dem Kind“ zumindest teilweise auf einer der im „Madonna-Skizzenbuch“ dokumentierten Zeichnungen basierte. Die Vielzahl leicht variierter Mariendarstellungen macht es wahrscheinlich, dass Zoppo hier tatsächlich eine Art Musterbuch anlegte, auf das er, wie wohl im Fall der Washingtoner Madonna, bei Bedarf zurückgreifen konnte.
Neben den Hauptmotiven der Madonna mit dem Kind weist das Hamburger Blatt noch einige weitere Themen auf. Armstrong vermerkte, dass die Skizze mit Johannes dem Täufer eine der ältesten nackten Darstellungen des Heiligen sei. Hier mag ein Einfluss von Mino da Fiesoles Salutati-Altar erkennbar sein.(Anm.10) Besonderes Interesse verdient auch die ebenfalls auf dem Recto befindliche Männergruppe. Armstrong hat eine Verbindung der drei sich unterhaltenden Männer mit Pieros Geißelung hergestellt (Anm.11); Bonicatti nimmt dagegen einen Einfluss der kleinen Figuren von Cosmé Turas Correr-Pietà an.(Anm.12) Unabhängig von diesen möglichen Vorbildern stellt eine Männergruppe mit orientalischem Einschlag ein häufiges Motiv der oberitalienischen Kunst der Zeit dar. Letztlich sei auf die kleine Verso-Skizze eines nackten, halb ausgestreckten Mannes verwiesen. Sie findet sich in ähnlicher Positur, aber aufgrund der Lavierung anders gezeichnet auch im „Rosebery-Album“.(Anm.13)

David Klemm

1 Die Vorlage hierzu bildete eine Gruppe von Zeichnungen im sogenannten Rosebery-Album in London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1920-2-14-1.
2 Giuseppe Fiocco: Un libro di disegni di Marco Zoppo, in: Miscellanea di Storia dell’Arte in onore di Igino Benvenuto Supino, hrsg. v. Rivista d’Arte, Florenz 1933, S. 340-350.
3 Lilian Armstrong: The Paintings and Drawings of Marco Zoppo, Phil. Diss., New York, London 1976, Vgl. Giuseppe Fiocco: Un libro di disegni di Marco Zoppo, in: Miscellanea di Storia dell’Arte in onore di Igino Benvenuto Supino, hrsg. v. Rivista d’Arte, Florenz 1933, S. 340-350, S. 399–411 und D.5-D.13; Eberhard Ruhmer: Marco Zoppo, Vicenza 1966, Padua in the 1450s. Marco Zoppo and his Contemporaries, bearb. v. Hugo Chapman u. a., Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 1998, S. 71–72.
4 Zum folgenden vgl. vor allem Hugo Chapman in Padua in the 1450s. Marco Zoppo and his Contemporaries, bearb. v. Hugo Chapman u. a., Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 1998.
5 London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1904-12-1-1; Lilian Armstrong: The Paintings and Drawings of Marco Zoppo, Phil. Diss., New York, London 1976, S. 406–407, D.9.
6 Braunschweig, Herzog Anton Ulrich–Museum, Inv.-Nr. Z 142; Lilian Armstrong: The Paintings and Drawings of Marco Zoppo, Phil. Diss., New York, London 1976, S. 401, D.5.
7 Padua in the 1450s. Marco Zoppo and his Contemporaries, bearb. v. Hugo Chapman u. a., Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 1998, S. 71.
8 Eberhard Ruhmer: Marco Zoppo, Vicenza 1966, S. 67.
9 Ebd., S. 74–75.
10 Lilian Armstrong: The Paintings and Drawings of Marco Zoppo, Phil. Diss., New York, London 1976, S. 402.
11 Ebd.
12 Maurizio Bonicatti: Aspetti dell’umanesimo nella pittura veneta dal 1455 al 1515, Rom 1964, S. 18.
13 London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1920-2-14-1, fol. 2 r.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun auf bräunlichem, leicht rötlich gefärbten Papier 254mm x 171mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21506 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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