Timoteo Viti

Sitzender männlicher Akt; Studie eines erhobenen Armes, um 1504/05

Harzen erwarb die Zeichnung wohl auf der Auktion Woodburn bereits mit der Zuschreibung an Viti. Diese alte Attribution wurde 1891 von Koopmann und 1917 von Fischel gestützt. Sie ist seitdem unstrittig geblieben.
Von Timoteo Viti haben sich mehrere Aktstudien in Kreide erhalten. Einige von ihnen werden als Studien für das Fresko „Das Wunder des Hl. Martin von Tours“ in Verbindung gebracht.(Anm.1) Dieses Werk schuf Viti 1504/05 für die Kapelle des Erzbischofs Arrivabene im Dom von Urbino. Da es 1789 zerstört wurde, kann einzig eine großformatige Vorstudie in der Albertina eine genauere Vorstellung der Gesamtkomposition geben.(Anm.2) Demnach hat Viti vor allem im rechten Bildbereich zahlreiche männliche Figuren in unterschiedlichen Haltungen angelegt. Wenn auch die Hamburger Figur auf der Wiener Zeichnung nicht zu erkennen ist, lassen sich doch grundsätzlich deutliche Übereinstimmungen, etwa in der Art der gedrehten Körperhaltung, erkennen. Die auf dem Hamburger Blatt angelegte Figur könnte daher von Viti für das Urbino-Projekt vorgesehen, letztlich aber verworfen worden sein.
Das bei den erhaltenen Kreidezeichnungen Vitis ansonsten selten erkennbare Interesse an Torsionen ist eindeutig auf den direkten Einfluss von Michelangelos 1504 ausgestellten Cascina-Karton zurückzuführen. So entspricht die Hamburger Figur im Gegensinn einem der zentralen Männerakte auf dem berühmten Entwurf.(Anm.3) Wie viele seiner Künstlerkollegen dürfte Viti das Werk unmittelbar nach dessen Fertigstellung in Florenz studiert haben.
Viti hat die Figur nicht nur durch die Spiegelung in der Wirkung verändert, sondern sie auch anders platziert. Während sie bei Michelangelo direkt auf der Uferkante sitzt, wodurch der linke Unterschenkel herabhängt, befindet sich der Mann bei Viti weiter entfernt vom Rand, auf einer Steinplatte.
Die Detailstudie eines ausgestreckten Arms am rechten oberen Bildrand lässt sich nicht von der berühmten Vorlage ableiten.
Dank der Stiftung von Georg Ernst Harzen verfügt das Hamburger Kupferstichkabinett neben London und Pesaro über einen der weltweit größten Bestände an Handzeichnungen von Timoteo Viti. Dessen zeichnerisches Œuvre ist nach wie vor schwer zu beurteilen, da Oskar Fischels bereits 1917 veröffentlichte grundlegende Beobachtungen zu Viti nur in wenigen Punkten weiterentwickelt worden sind.
Relativ eindeutig zu charakterisieren ist der Kreidezeichner Viti, der in seinen besten Studien – wie auf der vorliegenden Zeichnung oder seinem „Christus am Ölberg“ (Inv.-Nr. 21496) – zumeist sicher proportionierte Figuren in ruhigen Strichlagen darstellte. Typisch sind auch der Verzicht auf Kreuzschraffuren und die Vorliebe für eine ausgeprägte Konturlinie. Eine Zuschreibung des vorliegenden Blattes an Viti – wie sie bereits Harzen, Koopmann und Fischel vornahmen – ist daher auch ohne Bezug zu einem Gemälde oder Fresko sehr gut vertretbar.(Anm.4)
Deutlich problematischer ist die Einschätzung Vitis als Federzeichner. Dies liegt vor allem daran, dass die ihm bislang zugeschriebenen Zeichnungen sehr viel unterschiedlicher ausfallen als dessen Kreidezeichnungen.(Anm.5) Vor diesem Hintergrund ist eine grundlegende Erforschung des Zeichners Viti wünschenswert.
Aufgrund der Herkunft aus der Sammlung Woodburn ist sehr wahrscheinlich, dass die Zeichnung – wie die anderen Viti-Blätter von Harzen – aus altem Familienbesitz des Künstlers stammt. Allerdings fehlt der charakteristische Sammlerstempel. Die von Fischel angegebene Herkunft aus der Sammlung Marchetti (L. 2911) ist anhand des auf dem Blatt erkennbaren Kreuzes nicht eindeutig zu bestätigen. Das Kreuz entspricht vielmehr dem bei Lugt unter der Nr. 2903 b angeführten Zeichen, das bislang keinem Sammler zugewiesen werden konnte.

David Klemm

1 Zu Vitis Zeichnungen für diesen Auftrag vgl. Sylvia Ferino: Timoteo Vitis Zeichnungen zum verlorenen Martinszyklus in der Kapelle des Erzbischofs Arrivabene im Dom von Urbino, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts Florenz 23, 1979, H. 1/2, S. 127-144.
2 Wien, Albertina, Grafische Sammlung, Inv.-Nr. 1458; vgl. Veronika Birke, Janine Kertész: Die italienischen Zeichnungen der Albertina. Generalverzeichnis, Bd. III (Inv. 2401-14325), Veröffentlichungen der Albertina Bd. 35, Wien, Köln, Weimar 1995, S. 779–780, mit Abb.
3 Diese Beobachtung geht auf einen im Archiv des Kabinetts dokumentierten anonymen Hinweis zurück. Vgl. die Ölstudie des Bastiano da Sangallo (1481–1551) in Holkham Hall, Norfolk; vgl. Hugo Chapman, Tom Henry, Carol Plazzotta: Raphael from Urbino to Rom, Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 2004, S. 182–183.
4 Wilhelm Koopmann: Einige weniger bekannte Handzeichnungen Raffaels, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstammlungen 12, 1891, S. 40-49, S. 44; Oskar Fischel: Die Zeichnungen der Umbrer, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen, Beiheft zum 38. Bd., Berlin 1917, S.180.
5 Vgl. Inv.-Nrn. 21495, 21494, 21493.

Details zu diesem Werk

Schwarze Kreide 407mm x 276mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21498 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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