Leonardo da Vinci

Aristoteles und Phyllis, um 1475

Der Frühzeit Leonardos entstammt die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts populäre Szene der sogenannten „Macht der Frauen über die Männer“. Dargestellt ist der Moment, in dem sich der berühmte griechische Philosoph Aristoteles (384–324 v. Chr.) am Boden kriechend von seiner Geliebten Phyllis demütigen lässt. Der große Gelehrte bewegt sich vom Ort der Lust zur Stätte der für ihn essentiellen Gelehrsamkeit, allerdings ist er – wie sein Gesichtsausdruck zeigt – unentschlossen.


Zum kostbarsten Besitz des Hamburger Kupferstichkabinetts zählen sicherlich jene vier Zeichnungen Leonardo da Vincis, die Georg Ernst Harzen zwischen 1838 und 1854 erwerben konnte. Damit verfügt die Hamburger Kunsthalle in Deutschland über den größten Bestand an Zeichnungen dieses überragenden Künstlers.
Die vorliegende Studie entstammt der berühmten Sammlung Robert-Dumesnil. Sie wurde bereits im 19. Jahrhundert als Werk Leonardos eingestuft und ist seitdem niemals in ihrer Echtheit bezweifelt worden. Ihre Entstehung dürfte in die mittleren bis späten 1470er Jahre anzusetzen sein.(Anm.1) Diese Annahme ist überzeugend, da die Figuren noch einen starken Einfluss von Antonio Pollaiuolo und Andrea del Verrocchio aufweisen. Auch lassen sich kleine zeichnerische Schwächen ausmachen. So ist der Körper der Frau ungünstig proportioniert, wie z. B. das Verhältnis ihres rechten Beines zum Oberkörper verrät. Auch ihr linker Arm und ihre linke Hand sind ohne starke Charakterisierung der Gliedmaßen gezeichnet.(Anm.2)
Die Zeichnung zeigt das Thema der Macht der Frauen über die Männer. Dabei handelt es sich bei dem am Boden kriechenden Mann um den berühmten griechischen Philosophen Aristoteles (384–324 v. Chr.). Gleich zwei Legenden berichten davon, dass er eine Frau auf seinem Rücken reiten ließ: zum einen seine schöne Geliebte Phyllis als Dank für ihre Wohltaten, zum anderen Campaspe, die Geliebte seines Schülers Alexander des Großen. Der Legende nach hatte er versucht, die beiden voneinander zu trennen, wobei er Campaspes Zauber aber selbst derart verfiel, dass es zu oben geschilderter Situation kam. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich aber um eine Darstellung der Phyllis, da das Thema unter diesem Namen am geläufigsten ist.
Leonardo wählte für seine Darstellung den Augenblick, in dem der gedemütigte Aristoteles versucht, von dem links erkennbaren Bett, dem Ort der Lust, zu seinem rechts stehenden Schreibpult mit Sanduhr, dem Ort der Gelehrsamkeit, zu gelangen. Die Unentschlossenheit des Philosophen zeigt sich daran, dass er sich in einer Mischung aus Schmerz, Verunsicherung und Sehnsucht zu der ihn mit einer Peitsche schlagenden Frau umwendet. Für die Figur des Aristoteles scheint Leonardo auf eine Erfindung seines Lehrers Verrocchio zurückgegriffen zu haben. Dieser hatte auf einer polychromen Terrakotta mit einer „Auferstehung“ einen am Boden liegenden Soldaten in ähnlicher Haltung und mit vergleichbarem Gesichtsausdruck dargestellt.(Anm.3) Valentiner veranlasste diese formale Nähe zu der Annahme, dass Leonardo seinem Lehrer – wie bei dem Gemälde der „Taufe Christi“ – assistiert haben könnte. Auf jeden Fall ist sehr gut vorstellbar, dass Leonardo das wohl in den 1470er Jahren für die Medici-Villa in Careggi entstandene Werk gekannt hat.(Anm.4)
Das Thema der Erniedrigung des Aristoteles erfreute sich in der florentinischen Kunst der 1460er und 1470er Jahre einiger Beliebtheit, was mit seinem moralisierenden Gehalt zu tun haben mochte.
In diesem Zusammenhang sind die auf dem Verso notierten Worte „Lust, Unbehagen, Liebe, Eifersucht, Glück“ usw. von besonderem Interesse. Sie sind in einer für Leonardos Frühzeit typischen Schrift geschrieben.(Anm.5)
Miriam Marotzki wies auf einige Besonderheiten der Darstellung hin, die Leonardo als Erneuerer einer ikonographischen Tradition zeigen.(Anm.6) Ungewöhnlich ist etwa die Schlichtheit, mit der die beiden Hauptfiguren auftreten. Aristoteles ist nicht als Weiser in langem Gewand, sondern in einfacher Kleidung dargestellt. Auch Phyllis ist ohne jeden modischen Schmuck – eher burschikos – aufgefasst. Auffallend ist auch die Vehemenz, mit der sie auf Aristoteles einschlägt. Dieser wendet sich ihr flehentlich zu, was – wie der Verzicht auf das Zaumzeug – ebenfalls ungewöhnlich ist. Letztlich sei darauf verwiesen, dass die Szene nicht wie der Tradition zufolge in einem Garten, sondern in der Studierstube des Gelehrten spielt.(Anm.7)

David Klemm

1 Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 312 (Beitrag Carmen Bambach).
2 Die Gesichtszüge der männlichen Figur erinnern an den Gesichtstypus der rechts stehenden Figur auf der Pariser „Studie zu einer Anbetung“; vgl. Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. RF 1978; Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 316–320, Nr. 27, Abb. S. 317.
3 Florenz, Museo Nazionale del Bargello, Inv.-Nr. 472.
4 Wilhelm Reinhold Valentiner: Leonardo as Verrocchio’s Coworker, in: The Art Bulletin 12, 1930, Nr. 1, S. 43-87, S. 81. Die Datierung von Verrocchios Werk ist sehr umstritten. Die Vorschläge schwanken zwischen den frühen 1470er Jahren (Brown) bis um 1490 (Pedretti). Windt tendiert zu einer frühen Datierung des Reliefs, von dem sich der junge Leonardo dann zu seiner Figur des Aristoteles hat anregen lassen. Vgl. Franziska Windt: Andrea del Verrocchio und Leonardo da Vinci. Zusammenarbeit in Skulptur und Malerei. Beiträge zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Renaissance. Band 11, hrsg. v. Joachim Poeschke, Münster 2003, S. 262–263; dort auch eine ausführliche Diskussion der Datierungsfrage.
5 Eckhard Schaar verwies in Bezug auf Dawson Kiang auf Zeichnungen in Oxford, die als Allegorien ähnliche gegensätzliche Beischriften tragen wie das Verso des Hamburger Blattes, und wo etwa die nackten Personifikationen von Bosheit und Neid einen riesigen Frosch reiten, dem ein Totengerippe mit Sense und Stundenglas folgt. Diese Blätter entstanden aber etwas später als die Hamburger Zeichnung. Oxford, Christ Church, Inv.-Nr. 0034; James Byam Shaw: Drawings by Old Masters at Christ Church Oxford, 2 Bde., Oxford 1976, I, S. 36–37, Nr. 17 Recto u. Verso. Vgl. Italienische Zeichnungen der Renaissance aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, bearb. v. Eckhard Schaar unter Mitarbeit v. David Klemm, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Ostfildern-Ruit 1997, S. 92–93 (Beitrag Eckhard Schaar).
6 Freundlicher Hinweis von Miriam Marotzki, Hamburg, die an der Universität Hamburg eine Doktorarbeit über das Thema „,Si pinge col cervello, non colla mano‘, Neuzeitliche Künstler malen antike Philosophen. Ein Beitrag zur Klärung des Begriffs des ,intellektuellen Künstlers‘ in der Renaissance“ erarbeitet. Mitteilung per E-Mail, 5. 6. 2008.
7 Darstellungen von Innenräumen und häuslichen Szenen sind im Werk des Künstlers selten. Carmen Bambach wies darauf hin, dass die schlichten Möbel und die leicht nach oben geneigte Perspektivkonstruktion an die kleinformatige „Verkündigung“ im Louvre erinnern, die häufiger dem jungen Leonardo zugeschrieben worden ist. Vgl. Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 314.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun über Metallstift auf blaugrauem Papier; Spuren einer Einfassungslinie (Feder in Braun) 93mm x 136mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21487 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford, CC-BY-NC-SA 4.0

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