Leonardo da Vinci (Nachfolge)

Kopf eines Greises im Profil nach links

Wie kein zweiter Künstler vor ihm hat sich Leonardo da Vinci für die Physiognomie des Menschen interessiert. Wie zahlreiche Wiederholungen und Nachahmungen belegen, fanden seine mit außerordentlicher Beobachtungsgabe nach dem Leben angefertigten Studien großes Interesse bei Sammlern und Künstlern. Dies belegt auch das Blatt mit dem markanten Kopf eines Greises, bei dem es sich allerdings nicht – wie Georg Ernst Harzen annahm – um eine eigenhändige Leonardo-Zeichnung, sondern allenfalls um eine frühe Kopie nach einer verlorenen Zeichnung des Meisters handelt. Bei aller Ausdruckskraft fehlt bei dem Männerkopf jene Präzision des Rötelstifts, die Leonardos eigenhändige Studien – so z. B. der ebenfalls im Kupferstichkabinett bewahrte Kopf eines Alten (?) (Inv.-Nr. 21482) – aufweisen. Verschiedene Vorschläge – so Correggio (Anm.1), Agostino da Lodi (Anm.2) oder Giovanni Battista Franco (Anm.3) – vermögen nicht zu überzeugen. Denkbar ist, dass die Kopie im unmittelbaren Umkreis von Leonardo entstand, wo generell die stärkste Rezeption seiner Ideen stattfand.
Einen wichtigen Neuansatz in der Erforschung des Blattes brachte J. Q. van Regteren Altena, der offensichtlich als erster die Zeichnung als eigenhändige Arbeit des jungen Peter Paul Rubens ansah.(Anm.4) Sowohl Julius Müller Hofstede (Anm.5) als auch Michael Jaffé (Anm.6) haben sich dieser Ansicht – wenn auch mit Vorbehalt – angeschlossen. Jaffé nahm dabei den komplizierten Fall an, dass Rubens eine frühe italienische Kopie einer (verlorenen) Leonardo-Zeichnung wiederholt habe. Dass Rubens sich intensiv mit diesem von Leonardo geprägten Kopftypus auseinandergesetzt hat, belegt u. a. das in New York bewahrte Profilbildnis des sogenannten Niccolò da Uzzano.(Anm.7) Dieses weist in den physiognomischen Details wie auch in der Zeichentechnik Übereinstimmungen zu dem Hamburger Kopf auf. Dennoch bleibt ein Vorbehalt, das gesamte Blatt Rubens zu geben, da sich dessen Gesamtwirkung weniger gut mit dessen Stil verbinden lässt. Denkbar ist vielmehr – worauf Veronika Kopecky, London, hinwies –, dass Rubens, wie er es oft tat, eine originale italienische Zeichnung überarbeitet hat.(Anm.8) Spuren hiervon könnte man in der kunstvollen und sorgfältigen Verwendung des Pinsels erkennen. Diese Zeichenart ist typisch für den jungen Rubens, was mit van Regteren Altenas und Jaffés Einordnung des Blattes in diese Schaffensphase übereinstimmt. Ähnlich differenziert gearbeitete Zeichnungen entstanden damals z. B. für verschiedene Titelblätter. Dagegen sind Bert W. Meijer und Jan van der Sman davon überzeugt, dass die nicht allzu hohe Qualität des Blattes gegen eine Beteiligung von Rubens spricht.(Anm.9)

David Klemm

1 Alte Sammlerinschrift (?) auf dem Verso.
2 Rhoda Eitel-Porter; Kartonnotiz.
3 Anonyme Kartonnotiz.
4 Kartonnotiz.
5 Kartonnotiz.
6 Michael Jaffé: Figure Drawings attributed to Rubens, Jordaens and Cossiers in the Hamburger Kunsthalle, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, 1972, S. 39-50.
7 New York, Pierpont Morgan Library. Acc. no. I, 234. Vgl. Felice Stampfle unter Mitarbeit v. Ruth S. Kraemer u. Jane Shoaf Turner: Netherlandisch Drawings of the Fifteenth and Sixteenth Centuries and Flemisch Drawings of the Seventeenth and Eigteenth Centuries in the Pierpont Morgan Library, Princeton 1991, S. 138–139, Nr. 297.
8 Mündliche Mitteilung, Juni 2006. Zum Phänomen der überarbeiteten Zeichnungen vgl. Rubens. Drawing on Italy, bearb. v. Jeremy Wood, Ausst.-Kat. Edinburgh, National Gallery of Scotland, Nottingham, Djanogly Art Gallery, Edinburgh 2002.
9 Mündliche Mitteilungen auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 2.5.2008.

Details zu diesem Werk

Rötel, Pinsel 81mm x 69mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21484 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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