Alessandro Gherardini

Selene und Endymion, um 1700 (?)

Die Zeichnung mit der Darstellung von Selene und Endymion wurde von Georg Ernst Harzen – wohl nicht zuletzt aufgrund der alten Bezeichnung und der skizzenhaften Zeichentechnik – als Werk Pietro Testas eingestuft. Diese Zuweisung wurde von Ann Sutherland Harris per Kartonnotiz zurückgewiesen. Hugo Chapman, London, hat dann das Blatt als erster überzeugend dem Florentiner Alessandro Gherardini zugeschrieben.(Anm.1) Er brachte es mit einer Zeichnung im Louvre und in Kopenhagen in Zusammenhang. Diese von Chapman skizzierten Zusammenhänge wurden von Chris Fisher 1998 und 2001 ausführlich dargelegt.
Demnach besteht ein enger kompositioneller Zusammenhang des Hamburger Blattes mit einer Zeichnung in Kopenhagen.(Anm.2) Beide zeigen, wie Selene sich dem schlafenden Endymion nähert. Bei dieser Hauptgruppe sind lediglich kleinere Detailunterschiede – wie die Kopfhaltung der Selene – wahrnehmbar. Trotz dieser formalen Ähnlichkeit sind die beiden Blätter in ihrer graphischen Gestaltung dennoch sehr unterschiedlich. Fischer hat treffend herausgestellt, dass der besonderen poetischen Stimmung der auf blauem Grund gezeichneten Szene in Kopenhagen die klarer und rationaler wirkende Hamburger Fassung gegenübersteht.
In welcher Reihenfolge die Zeichnungen entstanden sind, lässt sich nicht abschließend beurteilen, da ein Deckengemälde bzw. -fresko mit dieser Szene nicht erhalten ist. Fischer hat in diesem Zusammenhang auf eine Rötelzeichnung Gherardinis hingewiesen, die 1984 bei Christie’s in London angeboten wurde.(Anm.3) Auf diesem Blatt ist lediglich die Figur der Selene zu sehen. Diese reduzierte Fassung findet sich, wie Meloni Trkulja 1995 feststellte, in ähnlicher Form auf einem Deckengemälde in einem Alkoven des Palazzo Corsini in Florenz.(Anm.4) Schwierig ist nun, die Blätter in Hamburg und Kopenhagen in einen Entwurfsprozess für das Deckenbild einzuordnen. Denkbar wäre, dass diese beiden Zeichnungen eine frühe abgelehnte Fassung darstellen.(Anm.5) Dabei wäre die Entwicklung vom sehr ausführlichen Hamburger Blatt über die Kopenhagener Version zur reduzierten Fassung anzunehmen. Unverkennbar ist in jedem Fall, dass bei der letzten Fassung der besondere inhaltliche wie kompositionelle Reiz der Erfindung Gherardinis völlig verloren gegangen ist. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich bei den Blättern in Hamburg und Kopenhagen um zwei komplexe Entwürfe für ein nicht erhaltenes oder niemals ausgeführtes Deckenbild handelt.
Gut vergleichbar mit dem Hamburger Blatt sind zwei in Kopenhagen und Paris bewahrte Studien Gherardinis für ein Deckenbild mit einer Darstellung „Apoll mit seinem Gefährt“.(Anm.6) Alle drei Zeichnungen sind in virtuoser Federtechnik, zum Teil auch mit ähnlicher Lavierung, ausgeführt.

David Klemm

1 Briefliche Mitteilung, 1. 3. 1995.
2 Kopenhagen, Statens Museum, Kobberstiksamling, Inv.-Nr. GB 4745.
3 Chris Fischer: Gherardini Drawings in Copenhagen, in: Statens Museum for Kunst Journal 2, 1998, S. 46-65, S. 52.
4 Silvia Meloni Trkulja: Alessandro Gherardini in Danimarca, in: Antichità viva 34, 1995, Nr. 5-6, S. 71, 74, Nr. 5–6, S. 71, 74, Anm. 6. Zur Abb. des Deckenbildes vgl. Chris Fischer: Gherardini Drawings in Copenhagen, in: Statens Museum for Kunst Journal 2, 1998, S. 46-65, S. 51.
5 Vgl. Chris Fischer: Gherardini Drawings in Copenhagen, in: Statens Museum for Kunst Journal 2, 1998, S. 46-65, S. 52.
6 Kopenhagen, Statens Museum for Kunst, Kobberstiksamling, Inv.-Nr. GB 4744; Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 1229; vgl. Italian Drawings in the Department of Prints and Drawings, Statens Museum for Kunst: Central Italian Drawings. Schools of Florence, Siena, the Marches and Umbria, bearb. v. Chris Fischer, Kopenhagen 2001, S. 234–235.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun über Vorzeichnung in schwarzer Kreide, weiß gehöht 268mm x 425mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21440 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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