Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio

Kinderkopf nach links im Halbprofil, um 1505

Raffaels Kinderzeichnungen zeigen eine erstaunliche Vielfalt und Variabilität hinsichtlich der Körperformen, des Ausdrucks und der verwendeten Technik. Die Blätter verdeutlichen in der Summe die überragende künstlerische Qualität Raffaels, dem offenbar kein Motiv zu schwierig und keine Technik fremd war.
Bei dem vorliegenden Blatt wählte der Künstler als Zeichenmedium den Silberstift. Dieser war vor allem im 15. Jahrhundert beliebt, erforderte vom Zeichner allerdings eine sehr sichere Technik und genaue Vorstellungskraft, da sich die zarten Linien kaum korrigieren lassen. Auf der anderen Seite sind die zumeist auf farbig grundiertem Papier ausgeführten Silberstiftzeichnungen aufgrund ihrer Feinheit ästhetisch sehr ansprechend. Raffael führt mit seiner Studie eines leicht nach vorn geneigten Kinderkopfes souverän alle Vorzüge dieser Technik vor Augen. Der Kopf wurde von ihm mit einer feinen Kontur definiert, wobei das besondere Interesse dem unteren Gesichtsbereich gilt. Dieser ist vor allem mit zahlreichen Parallellinien modelliert. Dagegen ist das lockige Haar mit wenigen Strichen mehr angedeutet als ausformuliert. Noch zurückhaltender ist der Oberkörper angelegt. Raffael erweist sich bei dieser Zeichnung einmal mehr als Meister im Weglassen. Diese Qualität trägt ebenso zur faszinierenden Wirkung der kleinen Studie bei wie das bewusste Nebeneinander von Andeutung und Konkretion. Letztlich überrascht die für eine Silberstiftzeichnung auffallende Lebendigkeit, was an Raffaels subtiler, bisweilen fast vibrierender Linienführung liegt. (Anm. 1) So ist etwa die Kontur keineswegs in einer einzigen durchgehenden Linie angelegt, sondern wiederholt verstärkt oder leicht korrigiert worden.
Das Blatt ist seit jeher als unbestrittene Zeichnung Raffaels anerkannt. Knab/Mitsch/Oberhuber, Joannides und auch Schaar haben die enge Verbindung mit dem Kopf des Christusknaben auf dem um 1505 entstandenen Gemälde Madonna im Grünen in Wien hervorgehoben. (Anm. 2) Unzweifelhaft besteht eine enge Beziehung zu diesem Werk, stimmen doch der Typus im Allgemeinen wie auch die Kopfhaltung und einige der Details – so z. B. das große Ohr im Speziellen – überein. Trotz einiger Unterschiede, etwa bei der Haarform, kann das Blatt daher als eine mögliche Vorstudie für das Wiener Gemälde eingestuft werden. (Anm. 3)
Enge Verwandtschaft besteht zu anderen, ähnlich präzisen Kinderkopfstudien Raffaels. Sehr gut vergleichbar sind etwa der ebenfalls mit dem Silberstift gezeichnete Kinderkopf im Frankfurter Städel (Anm. 4) oder eine 2004 im Londoner Auktionshandel angebotene Zeichnung, die allerdings mit Rötel über Bleigriffel ausgeführt ist. (Anm. 5) Die morphologischen Ähnlichkeiten – man vgl. den Mund, das große Ohr, das Doppelkinn, die Pausbacken, das in die Stirn fallende Haar – sind derart groß, dass man sogar an ein identisches Modell denken könnte. (Anm. 6) Hierfür spräche auch, dass sich alle Zeichnungen mit um 1505
entstandenen Gemälden in Verbindung bringen lassen.
David Klemm

1 Die Einschätzung Fischels, dass es sich um eine Überarbeitung handelt, die dem Blatt Zartheit genommen habe, ist nicht nachvollziehbar; vgl. Fischel 1922, S. 142.
2 Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 628.
3 Vgl. Joannides 1983, S. 158. Da die Hamburger Zeichnung keinerlei Übertragungsspuren aufweist, dürfte Raffael mit großer Wahrscheinlichkeit noch eine oder mehrere Detailstudien angefertigt haben. Allerdings ist bei einem derart versierten Zeichner nicht auszuschließen, dass er einen Kinderkopf auch ohne Durchpausen malen konnte.
4 Frankfurt am Main, Städel Museum, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 384; Vorzeichnung für die Madonna del Granduca in Florenz, Palazzo Pitti; die Zeichnung wir mit 1504/06 datiert. vgl. Jacoby/Sonnabend 2012, S. 91–93, Kat. 4.
5 Aukt.-Kat. London, Sotheby’s, Old Master Drawings, 8. 7. 2004, S. 44–45, Nr. 23, mit Abb. Diese Zeichnung wird mit der sogenannten Madonna Ansidei (London, National Gallery; vgl. Kat. 87) in Verbindung gebracht, was eine Datierung der Zeichnung um 1504/05 nahelegt.
6 Vgl. auch den Beitrag von Sabine Zorn im Ausstellungskatalog „Raffael. Wirkung eines Genies“ 2021, S. 595–597.

Details zu diesem Werk

Silberstift auf vormals blau(?) grundiertem Vergépapier 101mm x 89mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21419c Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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