Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio

Kinderkopf nach unten schauend, um 1506

Zahlreiche Zeichnungen belegen, dass Raffael immer wieder die Bewegungen, Haltungen und Gesten von Kindern festgehalten hat. Er war geradezu fasziniert von ihrer Lebendigkeit und lieblichen Anmut. Man gewinnt den Eindruck, als ob Raffael zu jeder sich bietenden Gelegenheit Studien angefertigt hat. Diese Zeichnungen dienten ihm sicherlich als Inspiration für seine zahlreichen Darstellungen von Madonnen mit dem Christus- und Johannesknaben oder für die immer wieder auf seinen Malereien auftretenden Putti oder Amoretten. Bisweilen finden sich Kinder aber auch an unerwarteter Stelle – so inmitten zahlreicher Philosophen und Denkern im linken Bildbereich der Schule von Athen.
Zahlreiche von Raffaels Kinderzeichnungen lassen sich nicht mit konkreten Malereien verbinden. Sie bildeten in der Summe aber sicherlich eine Art Bildgedächtnis, auf das der Künstler jederzeit zurückgreifen konnte. Es gibt aber auch eine Reihe von Studien, die mit Gemälden oder Fresken verknüpft werden kann. Dies gilt etwa für die kleine, mit dem Bleigriffel ausgeführte Skizze eines nach rechts gewandten Kinderkopfes (Inv-Nr. 21419a). Raffael legte die Kontur des leicht geneigten Kopfes vor allem im Gesichtsbereich genauer an, blieb dagegen in der oberen Kopfhälfte sehr skizzenhaft. Hier deuten wenige, schnell gezeichnete Locken das gesamte Haupthaar an. Sensibel sind die kindlichen Merkmale wie Stupsnase oder Pausbacken angelegt. Auffallend ist die dichte Folge von Parallelschraffen, die über das gesamte Gesicht gezogen sind.
Die feine Studie wurde bereits um 1860 von dem Sammler Georg Ernst Harzen als Werk Raffaels eingestuft. Diese Einschätzung ist in der Folgezeit von der Forschung weitgehend bestätigt worden. (Anm. 1) Spätestens seit Oskar Fischels 1915 gemachter Beobachtung wird der kleine Kinderkopf mit Raffaels um 1506/07 entstandenem Gemälde Die Heilige Familie aus dem Hause Canigiani (München, Alte Pinakothek, Inv.-Nr. kb-1905-103-37) verbunden. (Anm. 2) Fischel wies zurecht auf den starken Bezug zum Kopf des dort links stehenden kleinen Johannesknaben hin, auch wenn Raffael in der endgültigen Fassung idealisierende Änderungen – so des Ohres wie auch der Haare – vorgenommen hat. (Anm. 3)
Auch ein weiterer von Raffael gezeichneter Kinderkopf im Besitz des Hamburger Kupferstichkabinetts lässt sich mit der Hl. Familie aus dem Haus Canigiani verbinden (Inv-Nr. 21419b). (Anm. 4) Hierbei handelt es sich um ein leicht nach unten schauendes Kindergesicht, das Raffael in ähnlicher Weise wie den bereits vorgestellten Profilkopf anlegte: Auch hier finden sich die Betonung der Gesichtskontur, die sehr locker skizzierten Haarlocken und die leicht schräg durch das Gesicht geführten Parallelschraffen. Übereinstimmend ist zudem die Verwendung des Bleigriffels. Auffallend ist der starke Reuezug (Pentimento) am rechten Ohr des Kindes. Oskar Fischel brachte das Köpfchen erstmals mit einem der aus dem Himmel herabschauenden Putti auf der Hl. Familie in Verbindung. Gut vergleichbar ist er etwa mit dem linken Putto im rechts oberen Wolkenbereich im Allgemeinen wie auch die konkrete Kopfhaltung im Speziellen. (Anm. 5) Größere Übereinstimmungen bestehen zudem – allerdings seitenverkehrt – zum dritten Putto auf der linken Wolkenhälfte. (Anm. 6) Joannides wies darauf hin, dass die Art der Kopfdarstellung Raffaels Vertrautheit mit Florentiner Bildnissen des Quattrocento, speziell mit denjenigen des Desiderio da Settignano, verdeutlicht. (Anm. 7)
Beide Zeichnungen stammen aus der Sammlung Viti-Antaldi, in der sich ehemals zahlreiche Werke Raffaels befunden haben. (Anm. 8)
David Klemm

Koopmann 1891, S. 45, 47, 48; Fischel 1922, S. 154, bei Nr. 133b;
Joannides 1983, S. 170, Nr. 150; Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 248,
S. 579, Nr. 248; Sonnenburg 1983, S. 64; Ausst.-Kat. Hamburg 1997, S. 104, Nr.
48a (Beitrag Eckhard Schaar); Klemm 2009, Bd. 2, S. 309, Nr. 451 (mit älterer
Lit.)

1 Zweifel äußerte etwa Hubertus Falkner von Sonnenburg, dessen Einstufung als „durch Überzeichnen verdorbene Studie“ nicht nachvollziehbar ist. Vgl. Sonnenburg 1983, S. 64.
2 Laut Karteikarte im Archiv des Kupferstichkabinetts geht diese Zuschreibung ursprünglich auf eine briefliche Mitteilung von Oskar Fischel v. 24. 10. 1915 zurück.
3 Der von Joannides geäußerte Bezug zum linken Putto in der linken oberen Wolkenregion ist deutlich allgemeiner; vgl. Joannides 1983, S. 170.
4 Die Zeichnung wurde bereits von Harzen um 1860 als Raffael eingestuft, was vereinzelt bezweifelt wurde. So zog Koopmann 1891 sogar die Möglichkeit einer Fälschung in Erwägung. In den letzten Werkverzeichnissen von Knab/Mitsch/Oberhuber und Joannides wurde die Autorschaft Raffaels allerdings zweifelsfrei anerkannt (siehe Literaturverzeichnis).
5 Diese Übereinstimmung ist auf der sogenannten Rinuccini-Kopie (Pal. Rinuccini, Florenz) aus der Zeit um oder nach 1550 noch besser nachvollziehbar als auf dem restaurierten Gemälde. Dies dürfte auch die Forscher bis 1983 zu der Bestimmung des Hamburger Blattes als konkrete Vorzeichnung bewogen haben, zumal beim Original-Gemälde bis 1983 die Wolkenzone mit den Putti übermalt gewesen ist. Seit der Restaurierung ist aber offensichtlich, dass der anonyme Maler der Rinuccini-Kopie offensichtlich im Wolkenbereich eigenmächtige Veränderungen vorgenommen hat; vgl. Sonnenburg 1983, S. 64.
6 Sonnenburg vermutete 1983, S. 64, eine Kopie eines unbekannten italienischen Zeichners im Gegensinn nach seiner verlorenen Zeichnung Raffaels. Doch handelt es sich wohl eher um eine typologische Ähnlichkeit, da eine seitenverkehrte Kopie eines Kinderkopfes wenig sinnvoll erscheint.
7 Joannides 1983, S. 150.
8 Forlani Tempesti 2001, S. 153, S. 156, Anm. 3.

Details zu diesem Werk

Bleigriffel auf beige getöntem Papier, Initialen R.V. und Einfassungslinie: Feder in Braun, vollflächig kaschiert 65mm x 74mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21419a Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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