Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio

Hl. Sebastian, um 1503

Raffael zählt zu den bedeutendsten und faszinierendsten Zeichnern aller Zeiten. (Anm. 1) Von seiner Jugend an bis zu seinem frühen Tod hielt er seine vielfältigen Ideen auf Hunderten von Blättern fest. Die Spannbreite seiner Zeichnungen reicht von ersten Ideenskizzen bis hin zu mit großer Sorgfalt ausgeführten Kartons, die als Vorlage für Gemälde oder Wandmalereien dienten. Raffaels Zeichnungen faszinieren aufgrund ihrer Offenheit für Experimente, das Suchen nach der perfekten Form sowie ihrer feinen Eleganz, großen Anschaulichkeit und lebendigen Ausführung. Raffael war technisch sehr vielseitig und handhabte die damals verwendeten Mittel – Feder, schwarze Kreide, Kohle, Rötel, Silberstift, Metallgriffel sowie Pinsellavierung und Weißhöhung – mit großer Meisterschaft. Typisch für Raffael ist seine Fähigkeit, von anderen Künstlern Methoden und Techniken zu übernehmen. So finden sich Einflüsse vor allem von seinem Lehrer Perugino, aber etwa auch von Leonardo da Vinci oder Fra Bartolommeo, die Raffael dank seiner außergewöhnlichen Kreativität zu einem eigenen Stil entwickelt.
Der zeichnerische Nachlass des Künstlers ist trotz sicherlich immenser Verluste reich. Über 600 Zeichnungen werden ihm zugeschrieben, wobei diese Anzahl – wie intensive Forschungsdebatten in den letzten Jahrzehnten gezeigt haben – im Fluss ist und sicher auch bleiben wird. Dies hängt etwa mit der Schwierigkeit zusammen, Raffaels Zeichnungen der späten römischen Phase eindeutig von denjenigen seiner besten Schüler zu trennen. Unabhängig davon zählen die Zeichnungen Raffaels zu den kostbarsten Schätzen der europäischen Zeichenkunst. Blätter von seiner Hand sind der Stolz eines jeden Museums. Im Hamburger Kupferstichkabinett befindet sich dank des Legats von Georg Ernst Harzen seit Gründung des Museums ein interessanter Bestand von etwa zehn Blättern, der mit Raffael in Verbindung gebracht wird.
Fünf Zeichnungen davon können nach überwiegender Forschungsmeinung Raffael sicher zugeschrieben werden. Bei den anderen Blättern bestehen mehr oder weniger enge technische, stilistische oder motivische Verbindungen zu dessen OEuvre.
Die wechselvolle Beurteilung von Raffael-Zeichnungen zeigt anschaulich die mit Kohle ausgeführte Studie für einen Hl. Sebastian. Das Blatt wurde von Georg Ernst Harzen als Raffael erworben und in dessen frühe Schaffensphase eingeordnet. (Anm. 2) Diese Einschätzung stieß gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf wiederholte Kritik. Dabei wurde die Zeichnung aus stilistischen Gründen in die Nähe von Perugino gerückt. (Anm. 3) Von Seidlitz und Fischel hielten eine Autorschaft des Perugino-Schülers Giovanni di Pietro, genannt Lo Spagna, für denkbar.
Die neuere Forschung hat die Studie aber fast ausnahmslos als eigenhändige Zeichnung Raffaels anerkannt. Mit wenigen sensibel mit Kohle (Anm. 4) ausgeführten Linien ist der leicht geneigte Kopf mit dem langen Haar skizziert. Die überbetonte Körperkontur, die z. B. von Koopmann bemängelt wurde, dürfte auf eine spätere Überarbeitung zurückzuführen sein. (Anm. 5) Unverkennbar zeigt die in sich gekehrte Haltung des Heiligen Einflüsse der Umbrischen Schule, die Raffael durch seinen Lehrer Perugino erhalten hatte. Eine Entstehung kurz nach 1500 und wohl noch vor der Übersiedlung nach Florenz scheint daher denkbar. (Anm. 6)
Das Halbbildnis wurde bislang fast unisono als Studie für einen Hl. Sebastian gedeutet. (Anm. 7) Tatsächlich weisen der geneigte Kopf und das verinnerlichte Leiden auf Darstellungen dieses besonders populären Märtyrers hin, wie sie etwa für Perugino überliefert sind. (Anm. 8) Denkbar wäre, dass die Zeichnung als Studie zu einem kleinen Andachtsbild mit einer Halbfigur des Heiligen entstanden ist. Dort wäre das Martyrium in einem zum Mitleiden auffordernden verhaltenen Schmerz illustriert worden. (Anm. 9)
David Klemm

Joannides 1983, S. 138–139, Nr. 24; Forlani 1962, S. 147–148, Nr.
11; Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 97, S. 565, Nr. 97; Klemm 2009,
Bd. 2, S. 309, Nr. 540 (mit älterer Lit.)


1 Vgl. Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 11.
2 Hamburger Kunsthalle, Archiv, NH Ad: 01: 03, fol. 111 (als Raffael): „St Sebastian mit auf den Rücken gebundenen Händen; Halbfigur, der Kopf sehr edel und ausdrucksvoll. Gleichfalls aus früher Zeit. In Kreide. 7.4 9.6 Samml. Antaldi“. Der Hinweis auf die Sammlung Antaldi findet keine Bestätigung auf dem Blatt selbst, ist aber aufgrund der Kennerschaft des Sammlers Harzen von Gewicht.
3 Dies gilt z. B. für Wilhelm Koopmann, der nach anfänglicher Zustimmung 1897 Zweifel an der Zuschreibung an Raffael äußerte; Koopmann 1897, S. 38.
4 Die Zeichnung wurde seit jeher als Kreidestudie bewertet. Jüngste Untersuchungsergebnisse von Sabine Zorn haben gezeigt, dass Raffael Kohle verwendete; vgl. S. 597–598 im Ausstellungskatalog „Raffael. Wirkung eines Genies“ 2021.
5 Zwar gibt es auch Zeichnungen Raffaels, bei denen er die Konturlinien verstärkt, doch geschieht dies weniger stark als auf dem Hamburger Blatt. Joannides 1983, S. 139, hält eine eigenhändige Überzeichnung nicht für ausgeschlossen.
6 Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, S. 60. Forlani sieht auch bereits während kürzerer Aufenthalte empfangene Florentiner Einflüsse, etwa von Leonardo, so dass für sie auch eine Entstehung kurz vor dem Umzug Raffaels nach Florenz denkbar ist; vgl. Forlani 1962, S. 148.
7 Nicht völlig auszuschließen ist allerdings, dass Raffaels Studie als Vorbereitung für die Darstellung eines leidenden Christus entstanden ist; vgl. Forlani 1962, S. 148. Eine sehr ähnliche Köperhaltung zeigt etwa ein heute Bacchiacca zugeschriebenes Gemälde mit der Geißelung Christi in Washington; Washington, Samuel Kress Collection, Inv.-Nr. 1952.5.81.
8 Fischel und Joannides haben die Studie mit einem Entwurf Raffaels für eine Sacra Conversazione im Louvre verbunden, auf der neben Maria mit dem Christuskind der Hl. Rochus und der Hl. Sebastian zu sehen sind; Joannides 1983, S. 138; der Hinweis von Fischel ist auf einer Karteikarte im Archiv des Kupferstichkabinetts dokumentiert. Allerdings ist auf der Pariser Zeichnung der rechte Arm des Märtyrers vom Rücken gelöst und nach oben gestreckt dargestellt. Die Hamburger Lösung würde demnach eine Variante der Pariser Fassung darstellen.
9 Diese Vermutung wurde von Hugo Chapman bekräftigt. Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 18. 1. 2008.

Abgekürzt zitierte Literatur
Koopmann 1897
Wilhelm Koopmann: Raffaels Handzeichnungen, Marburg 1897

Details zu diesem Werk

Schwarze Kreide, mit Kohle überzeichnet; auf dem Verso teilweise montiert 258mm x 185mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21418 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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