Raffael (Umkreis), Zeichner

Maria mit dem Christuskind, um 1501

Das Blatt verfügt über eine alte Zuschreibung an Raffael, die mindestens auf William Ottley und damit in das späte 18. Jahrhundert zurückreicht.(Anm.1) Sie wurde in der Folgezeit von späteren Besitzern wie William Esdaile und Georg Ernst Harzen übernommen. 1897 führte Wilhelm Koopmann das Blatt erstmals als Raffael in die kunsthistorische Diskussion ein. In den folgenden Jahrzehnten fand die Zeichnung auffallend wenig Beachtung, obgleich sie Morassi laut Dokumentation im Archiv des Kabinetts für echt hielt und sie 1957 in der großen Ausstellung italienischer Zeichnungen in Hamburg zu sehen gewesen ist. Konsequenterweise wurde die Zeichnung in keines der großen Corpus-Werke – weder von Knab/Mitsch/Oberhuber noch von Joannides – aufgenommen. 1981 wurde das Blatt per brieflicher Mitteilung von Francis Russell einem Mitarbeiter Raffaels zugeschrieben.(Anm.2) Unabhängig hiervon nahm Mitsch 1983 die gleiche Einordnung vor.
Die Schwierigkeiten, das Werk Raffael selbst oder dessen Umkreis zuzuordnen liegen sicher in der für diesen Künstler nur selten nachweisbaren extrem aufwendigen Zeichentechnik. Hierauf wies bereits Koopmann nachdrücklich hin.(Anm.3) Demnach hat Raffael als Grundlage eine Silberstiftzeichnung mit zahlreichen Kreuzschraffuren auf hellbräunlichem Grund angelegt.(Anm.4) Erkennbar sind auch schwache Kreidespuren, die der ersten Formfindung gedient haben mögen. Darüber wurden die Figuren mit der Feder weiter konturiert und dann mit drei unterschiedlichen Tuschen laviert: gelbbraun, tiefer graubraun und schwarzbraun. Augen, Nase und Mund der Madonna sind in feinen Linien schwarzbraun nachgezogen, ebenso Nase und Mund des Kindes. Die Weißhöhungen stechen an diversen Punkten markant hervor und tragen entscheidend zur Verlebendigung des Blattes bei. Koopmann wies auf einige Schwachstellen hin, so auf die zu große rechte Hand der Gottesmutter, die ungünstige Verbindung von Hand und Unterarm sowie auf das wenig überzeugend angelegte rechte Bein des Kindes. Diese vermeintlichen Defizite schienen ihm gerade Hinweis dafür, dass hier Raffael als ein die Form suchender Zeichner erkennbar sei. Daneben stehen hervorragende Details wie die Finger, die Verkürzung des Fußes beim Kind, die Feinheit bei der Wiedergabe von Augen und Mund und nicht zuletzt die mit großer Sorgfalt gesetzten Weißhöhungen. Dies wie auch die gesamte Komposition und die in ihrer Zurückhaltung und Innerlichkeit ausdrucksvollen Physiognomien von Mutter und Kind lassen auf einen hervorragenden Entwerfer bzw. Zeichner schließen; sowohl Koopmann, als auch Gnann (Anm.5) und Joannides (Anm.6) haben diese Qualität ausdrücklich bestätigt. Eine Zuschreibung an Raffael erscheint daher durchaus vorstellbar.

Eine motivische Verbindung zum Œuvre des Künstlers bietet die Haltung des Christuskindes, die sich auf verschiedenen Gemälden des Künstlers findet, so bei der sogenannten Madonna Conestabile in St. Petersburg.(Anm.7) Der Gesamteindruck des mit großem Aufwand gezeichneten Blattes ist für Raffael aber insofern ungewöhnlich, als derart verdichtete, ja geradezu in Schichten angelegte Zeichnungen, wie oben angemerkt, für ihn selten nachweisbar sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich umso dringlicher die Frage nach der Funktion des Blattes. Festzuhalten bleibt, dass derartige Zeichnungen im Entwurfsprozess Raffaels keine nachweisbare Rolle spielen. Demnach könnte die Zeichnung als Kopie oder Erinnerung für ein heute nicht mehr nachweisbares Gemälde gedient haben.
Einen wichtigen Schlüssel zur genaueren Klärung von Funktion und Autorschaft des Blattes bildet eine Zeichnung im Louvre.(Anm.8) Sie entspricht motivisch und zeichentechnisch weitgehend dem Hamburger Blatt. Interessanterweise fand diese Version in der Forschung ein deutlich größeres Interesse. Auffallend an der intensiven Zuschreibungsdiskussion ist, dass die Zuordnung zu Raffael sehr spät, nämlich offensichtlich erst 1983, vorgenommen wurde. Zuvor wurde das Blatt wiederholt mit Vittore Carpaccio bzw. dessen Umkreis in Verbindung gebracht, da die Gruppe auf einem 1514 gemalten Retabel des Künstlers mit der Glorie des Hl. Vitale, in S. Vitale, Venedig, zu erkennen ist.(Anm.9) Tietze-Conrat vermuteten 1944, dass Carpaccio hier eine Erfindung eines lombardischen Künstlers übernommen habe. Pignatti dachte 1963 daran, dass ein Nachfolger Carpaccios die Madonna aus dessen Gemälde herauskopiert habe. Diese Diskussionen wurden von Mitsch 1983 in eine neue Richtung gelenkt, indem er für das Pariser Blatt – wie für das Hamburger Pendant – eine Herkunft aus der Raffael-Werkstatt annahm. Erstmals wurden damit beide Versionen zusammen behandelt. Dieser Deutung zufolge hat Carpaccio die motivische Anleihe sicherlich von Raffael übernommen – auf welchem Weg ist allerdings unklar.
Sowohl Mitsch als auch Cordellier und Py gingen davon aus, dass beide Fassungen als Werkstattkopien nach einer verlorenen Zeichnung Raffaels anzusehen sind. Diese sei – so vermuteten Cordellier/Py – von Giovanni Bellini angeregt worden. Diese Hypothese steht wiederum mit einem in der Forschung diskutierten möglichen Venedig-Aufenthalt Raffaels 1501 in Zusammenhang.(Anm.10)
Unabhängig von diesem speziellen Forschungsproblem stellt sich die Frage nach dem genauen Verhältnis der beiden Fassungen in Hamburg und Paris zueinander. Generell sind – wie Joannides bestätigte – beide Blätter von hoher zeichnerischer Qualität. Ein erstmals unternommener genauer Vergleich ergibt, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von einer Hand stammen. Diese Differenzierung legen kleine, auf den ersten Blick kaum erkennbare zeichentechnische Unterschiede nahe. Auffallend ist, dass die Weißhöhungen in unterschiedlicher Dichte und an verschiedenen Positionen gesetzt wurden. Beide Blätter differieren auch in der Herausarbeitung von Details; so sind auf der Pariser Zeichnung z. B. der rechte Fuß des Christuskindes und das Kissen weniger plastisch, fast nachlässig wiedergegeben. Auch fehlen dort die in Hamburg erkennbaren sehr feinen Heiligenscheine. Die Kontur der Muttergottes erscheint in Paris zum Teil stark eingedrückt, was dem Blatt eine etwas gröbere Erscheinung gibt. Zudem erzeugt die dominierende graublaue Farbigkeit eine deutlich kühlere Gesamtwirkung als das warme Braun des Hamburger Blattes, was der innigen Beziehung zwischen Maria und Christuskind angemessener erscheint. Hinsichtlich der Qualität kann dem Hamburger Blatt aus diesen Gründen eine leichte Priorität zugesprochen werden.
Die zeichentechnischen Unterschiede könnten den Schluss nahelegen, dass die beiden Blätter in Hamburg und Paris von zwei verschiedenen Mitarbeitern der Werkstatt Raffaels nach einer verlorenen Zeichnung des Meisters angefertigt wurden. Allerdings ist zu fragen, ob Raffael bereits zu Beginn seiner Laufbahn über mehrere Mitarbeiter verfügt hat.
Angesichts der oben beschriebenen Qualität des Blattes erscheint der Vorschlag Achim Gnanns, das Hamburger Blatt als Vorlage für die Pariser Zeichnung zu bewerten, am überzeugendsten.(Anm.11) Demnach wäre die Zeichnung als Original Raffaels anzusprechen. Bei der Pariser Fassung handelt es sich dagegen um eine nach dieser Vorlage von einem Werkstattmitglied mit großer Sorgfalt, aber auch mit leichten technischen Unterschieden ausgeführte Kopie.

David Klemm

1 Aukt.-Kat. London, [Ottley] 1804, S. 33, Nr. 346: „One – the Madonna and Child, highly finished, in bistre and Indian ink, heightened with oil white – very fine“.
2 Briefliche Mitteilung, 4. 12. 1981.
3 Wilhelm Koopmann: Raffaels Handzeichnungen, Marburg 1897, S. 137: „Die aufgewendeten Mittel sind ungewöhnlich mannigfaltig, fast einzig in ihrer Art […]“.
4 Zum Folgenden vgl. Wilhelm Koopmann: Raffaels Handzeichnungen, Marburg 1897.
5 Anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
6 Mitteilung bei einem Besuch im Kupferstichkabinett, 7.12.2007.
7 Wilhelm Koopmann: Raffaels Handzeichnungen, Marburg 1897; Codellier/Py 1992, S. 37.
8 Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 6794. Raphaël. Autour des dessins du Louvre, Ausst.-Kat. Académie de France à Rome, Villa Médicis, Paris 1992, S. 38, mit weiterführender Literatur.
9 Ebd.; vgl. auch Jan Lauts, Carpaccio, Gemälde und Zeichnungen, Gesamtausgabe, Köln 1962, S. 293, Nr. Z 78 (nur mit Erwähnung des Pariser Blattes).
10 Raphaël. Autour des dessins du Louvre, Ausst.-Kat. Académie de France à Rome, Villa Médicis, Paris 1992, S. 38.
11 Anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle und nochmals nachdrücklich bestätigt im März 2008.

Kunst- und materialtechnologische Untersuchungen:
Die Zeichnung wurde 2020 anlässlich der Ausstellung "Raffael. Wirkung eines Genies" (2021) erstmals grundlegend kunst- und materialtechnologisch untersucht, die Untersuchungsergebnisse wurden im gleichnamigen Ausstellungskatalog vollumfänglich publiziert. Die technischen Angaben in der Datenbank wurden anhand der vorliegenden Resultate wie folgt verändert:
Alt: Feder in Braun über Silberstift, braun laviert, weiß gehöht auf bräunlichem Papier, geringe Spuren eines schwarzen Stifts; montiert und mit Rahmung versehen
Neu: Feder in Braun über Silberstift, braun laviert, weiß gehöht auf braun getöntem Vergépapier, vollflächig kaschiert, Reste einer Passepartouteinfassung

Sabine Zorn (20210419)

Details zu diesem Werk

Feder in Braun über Silberstift, braun laviert, weiß gehöht auf braun getöntem Vergépapier, vollflächig kaschiert, Reste einer Passepartouteinfassung 141mm x 105mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21417 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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