Bernardino di Betto, genannt Pintoricchio (Werkstatt)

Figur eines alexandrinischen Gelehrten, um 1492

Das Blatt gelangte durch Georg Ernst Harzen mit einer Zuschreibung an den Florentiner Maler Cosimo Rosselli (1439–1507) in die Sammlung. Diese Einschätzung ist insofern nachvollziehbar, als die Figur in ihrer monumentalen Haltung an Darstellungen auf Rossellis Fresko „Die Bergpredigt“ in der Sixtinischen Kapelle erinnert. Ein viel näherer Bezug lässt sich aber zu dem fast zeitgleich im Vatikan tätigen Sieneser Maler Bernardo Pintoricchio ausmachen. So entspricht die stehende Gewandfigur weitgehend einem Gelehrten auf Pintoricchios 1492–1494 entstandenem Fresko „Die Disputation der Hl. Katharina von Alexandria“ im Appartamento Borgia im Vatikan.(Anm.1) Die Zeichnung stimmt im Wesentlichen mit der ausgeführten Figur überein, doch deuten einige Veränderungen – so im Gewand, in der Behandlung des Bartes usw. – darauf hin, dass hier keine Nach-, sondern eine Vorzeichnung vorliegen könnte. Allerdings kann nicht bestritten werden, dass die Erscheinung des Blattes aufgrund des in manchen Partien zögerlichen Konturs und der kontrollierten Lavierung etwas verhalten wirkt. Dieser fast lyrische Ton ist typisch für den Maler Pintoricchio, der auf vielen Gemälden ähnliche, in sich ruhende Gestalten formuliert hat.(Anm.2)
Mit Pintoricchio lassen sich auch die Groteskenornamente auf dem Verso verbinden. Ähnliche Dekorationselemente finden sich auf einer Zeichnung im Berliner Kupferstichkabinett.(Anm.3) Beide Blätter belegen das vielfach verbürgte Antikeninteresse des Künstlers und lassen sich mehr oder weniger eng mit den Rahmendekorationen der Papstgemächer bzw. den Fresken in S. Maria in Aracoeli in Rom oder in S. Maria Maggiore in Spello in Verbindung bringen.
Trotz dieser vielfältigen Bezüge zum Werk Pintoricchios ist eine definitive Zuschreibung problematisch. Denn weltweit liegen nur sehr wenige gesicherte Zeichnungen des Künstlers vor, sodass die Vergleichsmöglichkeiten begrenzt sind.(Anm.4) Hinzu kommt, dass die mit Pintoricchio in Verbindung gebrachten Blätter sehr unterschiedlich sind. So weist das Hamburger Blatt im Vergleich zu den Pintoricchio 2006 zugeschriebenen Blättern in Dresden eine etwas skizzenhaftere Erscheinung auf.(Anm.5) Die konkrete Verbindung einer Zeichnung mit einem Gemälde oder Fresko ist bislang – abgesehen von dem Hamburger Blatt – offensichtlich nur für das Berliner Blatt gelungen. Vor diesem Hintergrund kommt der „Studie des alexandrinischen Gelehrten“ einige Bedeutung zu.
Allerdings legen die oben beschriebene etwas verhaltene Zeichenweise und die Studien auf dem Verso die Vermutung nahe, dass es sich hier doch weniger um eine eigenhändige Zeichnung denn um eine Werkstattarbeit handeln könnte. Denkbar ist, dass hier ein Studienblatt eines Schülers nach einem verlorenen Original Pintoricchios vorliegt. Eine Art Musterblatt aus der Werkstatt Pintoricchios bewahrt das Nationalmuseum in Stockholm.(Anm.6) Dort sind mehrere Motive aus Fresken – so z. B. aus S. Maria d’Aracoeli und dem Appartamento Borgia – erkennbar. Auch diese Skizzen weisen leichte Unterschiede zu den Malereien auf, was darauf hindeutet, dass sie ebenfalls nach Originalen des Meisters entstanden sind.

David Klemm

1 Das Fresko befindet sich in der Sala dei Santi und stellt ein Hauptwerk eines Ende 1492 bis 1494 von Pintoricchio und seiner Werkstatt ausgeführten Zyklus’ dar. Zu Geschichte und Programm dieser durch die benachbarten Fesken Raffaels und Michelangelos zu wenig beachteten Bildfolge vgl. Sabine Poeschel: Alexander Maximus. Das Bildprogramm des Appartamento Borgia im Vatikan, Weimar 1999.
2 Vgl. z. B. „Der Hl. Bernhardin in der Wüste“, Rom, S. Maria in Aracoeli.
3 Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ 5192. Die italienischen Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett, bearb. v. Hein-Th. Schulze Altcappenberg, hrsg. v. Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Saarbrücken, Saarland Museum, Berlin 1995, S. 178–180.
4 Vgl. hierzu auch Chris Fischer in Italian Drawings in the Department of Prints and Drawings, Statens Museum for Kunst: Central Italian Drawings. Schools of Florence, Siena, the Marches and Umbria, bearb. v. Chris Fischer, Kopenhagen 2001, S. 246.
5 Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. C 269; Inv.-Nr. C 268; vgl. I disegni italiani del Quattrocento nel Kupferstich-Kabinett di Dresda, bearb. v. Lorenza Melli, Ausst.-Kat. Florenz, Istituto Universitario Olandese di Storia dell’Arte, Florenz 2006, S. 192–199.
6 Stockholm, Nationalmuseum, Inv.-Nr. NM 26/1863; vgl. Italian Drawings. Umbria, Rome, Naples. Drawings in Swedish Public Collections 6, Nationalmuseum Stockholm, bearb. v. Per Bjurström, Börje Magnusson, Stockholm 1998, o. S., Nr. 404.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun, braun laviert 207mm x 138mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21406 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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