Anonym, 1. Hälfte 16. Jahrhundert (italienisch)

Ecce Homo

Charakteristisch für die Zeichnung mit der „Ecce-Homo“-Darstellung ist die durch feine Weißhöhungen erzielte effektvolle Herausarbeitung der Komposition. Die Szene wird gleichsam aus dem dunklen Fond ans Licht geholt. Die Figuren sind mit sicherem Proportionsgefühl gezeichnet und gekonnt gruppiert. Mit großem Geschick ist die Szenerie an beiden Seiten perspektivisch erweitert. Die auf der linken Blattseite ausgeführten dekorativen Elemente zeigen den Erfindungsreichtum des Künstlers: Dort befinden sich neben heidnischen Masken (oben links) auch christliche Elemente (geflügelte Figur links) sowie ein Wappen und einige nicht eindeutig bestimmbare Figuren.
Eine genaue Bewertung der künstlerischen Qualität des Blattes ist aufgrund des sehr schlechten Erhaltungszustandes kaum noch möglich. Dennoch lässt eine Detailbetrachtung die zum Teil hervorragende Qualität erkennen.
Die Zeichnung gelangte als Werk Baldassare Peruzzis (1481–1536) in das Kupferstichkabinett. Die auf Georg Ernst Harzen zurückgehende Zuschreibung ist insofern nachvollziehbar, als von Peruzzi einige Zeichnungen existieren, die hinsichtlich der breitformatigen Anlage, der Verwendung brauner Tinte sowie der zahlreichen Figuren vergleichbar sind.(Anm.1) Zudem dürften die auf dem Blatt dargestellten Architekturprospekte Harzen zu der Zuschreibung an den Maler-Architekten bewogen haben.
Harzens Einschätzung konnte einer modernen Stilkritik jedoch nicht standhalten. Christoph Luitpold Frommel lehnte die Zuschreibung in seiner Untersuchung des zeichnerischen Werkes Peruzzis – ohne nähere Begründung – ab. Seitdem blieb das großformatige Blatt unbeachtet.
Eine Entstehung im 16. Jahrhundert ist aufgrund der Figuren-
darstellung und der kraftvollen Dekorationselemente als sicher anzunehmen. Allerdings lässt sich die Zeichnung – trotz der angesprochenen Qualitäten – nur schwer verorten. Die von einem breiten Rahmen umgebene quergerichtete Komposition erinnert an virtuose Blätter eines Rosso Fiorentino und anderer Mitglieder der Schule von Fontainebleau. Auch von Giuseppe Salviati sind mehrere ähnlich angelegte querformatige Blätter nachweisbar.
Harzen hat die Szene richtig als „Ecce Homo“ interpretiert, wobei das Ereignis auf der kleinen Bühne im Hintergrund nur schwer zu erkennen ist. Stärkeres Gewicht kommt den Zuschauern im Vordergrund zu, wobei genrehafte Elemente nicht fehlen.
Unklar ist die Funktion der Zeichnung. Möglicherweise handelt es sich um einen Entwurf für einen Innenraum, da die vom Zeichner ansatzweise angelegte Rahmendekoration für eine Fassadenmalerei allzu aufwendig erscheint. Die Art der Kombination von Rahmen und Bild erinnert stark an Tapisserien – für derartige Zwecke waren auch einige der oben angesprochenen Entwürfe von Salviati entstanden. Denkbar wäre demnach, dass das Hamburger Blatt einen Entwurf für einen Wandbehang darstellte, der sicherlich für einen kirchlichen Zusammenhang – z. B. als Schmuck an besonderen Festtagen – gedacht gewesen ist.

David Klemm

1 Vgl. z. B. „Merkur-Allegorie“, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 1419; Christof Luitpold Frommel: Baldassare Peruzzi als Maler und Zeichner. Beiheft zum Römischen Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. 11, 1967/68, S. 155–158, Nr. 125.

Details zu diesem Werk

Feder, weiß gehöht, auf braunem Papier 238mm x 522mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21307 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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