Pellegrino Tibaldi, auch Pellegrino de’Pellegrini

Polyphem greift nach Odysseus und seine Gefährten, um 1554

Die beeindruckende Zeichnung des verzweifelt nach Odysseus und seinen Gefährten tastenden Polyphem ist stets Pellegrino Tibaldi zugeschrieben worden. Dabei wurde seit Georg Ernst Harzen ein direkter Bezug zu den von 1554 bis 1556 von Tibaldi im Palazzo Poggi in Bologna freskierten Odysseus-Szenen gesehen.(Anm.1) Im dortigen Erdgeschoss befindet sich eine Darstellung Polyphems, die bis in viele Details mit der Hamburger Zeichnung übereinstimmt.(Anm.2)
Hugo Chapman äußerte allerdings grundsätzliche Zweifel an der Autorschaft Tibaldis. Für ihn ist die ruhige und ausgewogene Zeichnung schwer als direkte Vorstudie für das Fresko vorstellbar.(Anm.3) In diese Richtung argumentierten auch Van Gelder/Jost, die vermuteten, dass die Zeichnung nach dem Fresko entstanden ist. Hierauf könnte auch die Art der angedeuteten Schattenpartien – z. B. hinter dem linken Oberkörper – hindeuten, die auf dem Fresko in ähnlicher Form auftreten.
Man kann diese Zweifel jedoch auflösen, wenn man für die Vorbereitung der Fresken verschiedene Entwurfsmodi konstatiert. Die sorgfältig ausgeführte Hamburger Zeichnung könnte ein weit voran geschrittenes Entwurfsstadium darstellen, in dem es um exakte Vorgaben für die spätere Ausführung ging. Die Veränderungen gegenüber dem Fresko sind sehr gering und beziehen sich vornehmlich auf den Gesichtsausdruck des verzweifelten Polyphem. Schwer nachvollziehbar ist allerdings, warum der rechte Arm des Polyphem nicht ausgeführt worden ist.
Für eine Zuschreibung an Tibaldi spricht auch die Art der feinen, sehr einfühlsamen Verwendung der Kreide, die eindeutige Parallelen zu anderen gesicherten Blättern des Bologneser Künstlers aufweist. Gut vergleichbar sind das Haarlemer Blatt „Christus als Weltenrichter“ (Anm.4) und die in Dijon bewahrte Zeichnung einer fast nackten Frau mit an den Körper gezogenem Knie (Anm.5). Diese Studie wirkt in ihrer feinen Strichtechnik und der michelangelesken Figurenauffassung wie ein Gegenstück zum Hamburger Blatt. Dieses darf daher ohne Zweifel dem Künstler zugeschrieben werden.
Das Hamburger Blatt hat den holländischen Künstler Jan de Bisschop derart beeindruckt, dass er es als Grundlage für eine Radierung in seiner 1671 publizierten Folge „Paradigmata Graphices variorum Artificum“ verwendet hat.(Anm.6) Zeichnung und Graphik weisen große Übereinstimmungen auf. Von Interesse ist, dass bei de Bisschop anders als auf der Zeichnung der linke Fuß des Polyphem dargestellt ist. Dies könnte auf eine später erfolgte Beschneidung des Blattes oder auf eine Ergänzung durch de Bisschop zurückgehen. Ebenso ist denkbar, dass der rechte erhobene Arm, der auf dem Hamburger Blatt nicht durchgezeichnet ist, von de Bisschop ergänzt wurde. Hierfür spricht, dass der Künstler an dieser Stelle nur eine sehr skizzenhafte Radiertechnik angewandt hat. Wie genau de Bisschop die Vorlage umsetzte, ist auch an der Gestaltung der linken Schulter Polyphems erkennbar: Hier übernahm de Bisschop ein Pentimento, dass Tibaldi dann bei der Ausführung im Fresko weggelassen hat.
Michael Hirst hat eine in den Uffizien verwahrte Figur des Polyphem als Modell de Bisschops reklamiert, doch bestehen zu große Unterschiede zur Radierung.(Anm.7)
Laut Julien Stock soll sich in Skandinavien eine weitere, im Vergleich zu Hamburg noch detaillierter ausgeführte Zeichnung mit der Figur des Polyphem befinden.(Anm.8) Da eine genaue Beurteilung dieser Zeichnung ohne Photographie nicht geleistet werden kann, wird weiterhin das Hamburger Blatt als direkte Grundlage für de Bisschops Werk angesehen. Dabei muss vor der Übertragung auf die Radierplatte allerdings noch eine weitere Zeichnung angefertigt worden sein, auf der die Figur des Polyphem um etwa die Hälfte verkleinert worden ist.(Anm.9)
Der Inschrift de Bisschops zu Folge wurde die Komposition von Michelangelo erdacht und von Daniele Volterra gezeichnet. Tatsächlich wurden Tibaldis Fresken wiederholt mit Erfindungen Michelangelos in Verbindung gebracht.(Anm.10) Und der Hinweis auf Volterra ist dahingehend nachvollziehbar, dass sich derart exakte, mit großer Sorgfalt ausgeführte Zeichnungen in dessen Œuvre häufiger finden.(Anm.11)

David Klemm

1 Vgl. Jan G. van Gelder, Ingrid Jost: Jan de Bisschop and his Icones & Paradigmata. Classical Antiquities and Italian Drawings for Artistic Instruction in Seventeenth Century Holland, hrsg. v. Keith Andrews, Dornspijk 1985; Schaar in Italienische Zeichnungen der Renaissance aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, bearb. v. Eckhard Schaar unter Mitarbeit v. David Klemm, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Ostfildern-Ruit 1997.
2 Vgl. die Abb. in Pittura Bolognese del ‘500, hrsg. v. Vera Fortunati Pietrantonio, 2 Bde., Bologna 1986, II, S. 518.
3 Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 18. 1. 2008.
4 Haarlem, Teylers Museum, Inv.-Nr. J 23; Tuyll van Serooskerken 2000, S. 375–376, Nr. 393. Dieses Blatt wurde früher als Zeichnung Daniele da Volterras angesehen.
5 Dijon, Musée des Beaux-Arts, Inv.-Nr. CA T 189; Collections du Musée des Beaux-Arts de Dijon. Catalogue des dessins italiens, bearb. v. Marguerite Guillaume, Ausst.-Kat. Musée des Beaux-Arts de Dijon, Dijon 2004, S. 198–199, Nr. 350.
6 Vgl. Jan G. van Gelder, Ingrid Jost: Jan de Bisschop and his Icones & Paradigmata. Classical Antiquities and Italian Drawings for Artistic Instruction in Seventeenth Century Holland, hrsg. v. Keith Andrews, Dornspijk 1985, S. 238–239.
7 Vgl. Jan G. van Gelder, Ingrid Jost: Jan de Bisschop and his Icones & Paradigmata. Classical Antiquities and Italian Drawings for Artistic Instruction in Seventeenth Century Holland, hrsg. v. Keith Andrews, Dornspijk 1985, S. 239.
8 Briefliche Mitteilung, 17. 9. 1990. Archiv des Kupferstichkabinetts.
9 Van Jan G. van Gelder, Ingrid Jost: Jan de Bisschop and his Icones & Paradigmata. Classical Antiquities and Italian Drawings for Artistic Instruction in Seventeenth Century Holland, hrsg. v. Keith Andrews, Dornspijk 1985, S. 239.
10 Vgl. Van Gelder/Jost 1984, S. 239.
11 Vgl. z. B. „David und Goliath“, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 14965 F. Daniele da Volterra. Amico di Michelangelo, hrsg. v. Vittoria Romani, Ausst.-Kat. Florenz, Casa Buonarroti, Florenz 2003, S. 120–123, Nr. 32.

Details zu diesem Werk

Schwarze Kreide; obere Ecken angestückt; doubliert 440mm x 309mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21297 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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