Jacopo Ligozzi

Der Leichnam Christi wird von einem Engel beweint, um 1595

Die minutiös gezeichnete „Beweinung Christi“ weist typische Merkmale von Ligozzis meisterhafter Zeichentechnik auf. Die analytisch strenge Binnenzeichnung verbindet sich mit einer sehr sicheren Pinselführung sowie akzentuierendem Einsatz der Weißhöhungen. Das Resultat ist eine durchgestaltete Zeichnung, die mit ihrer chiaroscurohaften Wirkung als eigenständiges Kunstwerk gelten kann. Tatsächlich diente das Blatt jedoch für eine graphische Umsetzung, wie die mit größter Vorsicht vorgenommenen Punktierungen belegen.
Hinsichtlich Strichtechnik und Weißhöhungen ist eine in Wien bewahrte „Engelspietà“ Ligozzis sehr gut vergleichbar.(Anm.1) Zudem stimmen motivische Elemente überein: Man beachte etwa die Wiedergabe der Köpfe von Christus und dem Engel oder auch die lineare Darstellung anatomischer Details.(Anm.2)
Eine von Byam Shaw Ligozzi zugeschriebene Zeichnung in Oxford zeigt den toten Christus, der von zwei Engeln gestützt wird.(Anm.3) Auffallend ist die gänzlich andere Konzeption der Körperlichkeit Christi. Zeigt das Hamburger Blatt einen in sich zusammengesunkenen, schwachen Menschen, so betont die Oxforder Zeichnung den muskulösen Körperbau. Wenn auch die zeichentechnische Brillanz dieses Blattes durchaus für Ligozzi sprechen könnte, ist eine Zuschreibung an diesen Künstler, an der bereits Pouncey zweifelte, problematisch.
Der nach dem Hamburger Blatt entstandene seitengleiche Kupferstich Jan Mullers ist der einzige, den der Künstler direkt nach einer italienischen Vorzeichnung angefertigt hat. Angesichts des kleinen Formats ist es durchaus denkbar, dass das Modello nach Amsterdam gesandt und dort verwendet wurde. Muller gelang es hervorragend, die malerische Chiaroscuro-Technik Ligozzis in die Graphik zu übersetzen.(Anm.4) Kok hat den Kupferstich auf ca. 1595 datiert, weshalb die Zeichnung wohl kurz zuvor entstanden sein dürfte.(Anm.5)
Neben dem Kupferstich existiert noch ein seitengleiches Gemälde von der Hand Ligozzis, das weitgehend mit der Hamburger Zeichnung übereinstimmt.(Anm.6) Dies betrifft sowohl die Gesamtanlage als auch zahlreiche Details. Dennoch sind die Unterschiede in der Position der Köpfe, der Haltung der Hände und in der Lichtführung unverkennbar. Zudem sind der Felsen und das Leichentuch Christi unterschiedlich dargestellt. Aus diesen Gründen und wegen der oben erwähnten Punktierung handelt es sich – entgegen der Ansicht von Lucilla Conigliello – bei der Hamburger Zeichnung nicht um eine Vorzeichnung für das Gemälde. Conigliello hat das motivgleiche Gemälde Ligozzis in die Spätzeit seines Schaffens datiert, was darauf hindeutet, dass Ligozzi die zuvor gefundene Komposition womöglich auf Wunsch eines Auftraggebers wiederholt hat.
Von besonderem Interesse für die Sammlungsgeschichte des Kupferstichkabinetts ist, dass die „Beweinung Christi“ ehemals einen gezeichneten Rahmen besaß, der eine Art Edelsteinapplikatur imitierte. Dieser Rahmen wurde spätestens bei einer Neumontierung in den 1980er oder frühen 1990er Jahren entfernt und ist heute nur noch auf alten Photographien nachweisbar.(Anm.7)

David Klemm

1 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Lav IX/82/2023. Vgl. Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, hrsg. v. Gerda Mraz, Uwe Schögl, Wien 1999, S. 236–238.
2 Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, hrsg. v. Gerda Mraz, Uwe Schögl, Wien 1999, S. 238 (Beitrag Gudrun Swoboda).
3 Oxford, Christ Church, Inv.-Nr. 0747; jetzt: James Byam Shaw: Drawings by Old Masters at Christ Church Oxford, 2 Bde., Oxford 1976, I, S. 88, Nr. 222.
4 Diese Technik ist für Muller bis dahin ungewöhnlich. Vgl. Jan Piet Filedt Kok: Jan Harmensz. Muller. The Muller Dynasty. Part II, The New Hollstein Dutch & Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 1450-1700, Rotterdam 1999, S. 19.
5 Jan Piet Filedt Kok: Jan Harmensz. Muller. The Muller Dynasty. Part II, The New Hollstein Dutch & Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 1450-1700, Rotterdam 1999, S. 153.
6 Vgl. Jacopo Ligozzi. Le vedute del Sacro Monte della Verna. I dipinti di Poppi e Bibbiena, hrsg. v. Lucia Conigliello, Ausst.-Kat. Castello dei Conte Guidi Poppi, Rilliana, Quaderni delli Rilliana 8, Poppi 1992, S. 39 und Abb. 56 (Beitrag Lucilla Conigliello). Der Verbleib des Gemäldes ist unbekannt.
7 Vgl. die Abb. im Jacopo Ligozzi. Le vedute del Sacro Monte della Verna. I dipinti di Poppi e Bibbiena, hrsg. v. Lucia Conigliello, Ausst.-Kat. Castello dei Conte Guidi Poppi, Rilliana, Quaderni delli Rilliana 8, Poppi 1992.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun über Rötel, braun laviert, weiß gehöht auf rotbraun-gefärbtem Papier; Umfassungslinie (Feder in Schwarz), durchgestochen 190mm x 173mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21236 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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