Jacopo Pontormo, eigentlich Jacopo Carucci

Studie einer sitzenden weiblichen Allegorie (Fortitudo?), Figurenstudien, um 1535/36

Die Kreidestudie eines Aktes zeichnete Pontormo als Vorbereitung für Freskoarbeiten in der Villa der Medici-Fürsten in Careggi bei Florenz. Großherzog Cosimo I. Medici ließ die durch die Vertreibung der Medici 1527 teilweise zerstörte Villa nach seiner Rückkehr ab 1531 wieder herrichten. 1535/1536 wurde die Loggia am Eingang im Auf- trag von Alessandro de’ Medici durch Pontormo und seine Werkstatt neu ausgemalt, diese Fresken sind jedoch zerstört. Die Frauenfigur wird aufgrund des Spiegels, den sie mit der linken Hand hält, als Personifikation der ‚Prudenzia‘, der Weisheit, gedeutet.
Andreas Stolzenburg
Die kraftvolle, fast männlich wirkende Frau ist in einer etwas unausgewogenen, nicht mehr klassischen Haltung dargestellt. Unverkennbar ist – wie bereits Berenson schrieb – der Einfluss Michelangelos. Die Figur hält in ihrer Linken einen ovalen Gegenstand, den Harzen als Schild, spätere Forscher gelegentlich als Spiegel gedeutet haben. Dies führte dazu, dass man die Figur als Personifikation der Prudentia deutete. Dies ist aber keineswegs eindeutig, da man den Gegenstand auch als Schild und die Figur daher als Fortitudo interpretieren könnte. Bei dieser Deutung erscheint auch der maskuline Körperbau der Frau plausibler.
Die Hamburger Zeichnung wirkt auf den ersten Blick in sich vollendet und ausgereift, doch sind beim näheren Hinsehen zahlreiche Pentimenti, etwa im Bereich der Konturen, erkennbar. Daher ist schwer zu entscheiden, ob es sich um eine abschließende Entwurfszeichnung handelt. Griffelspuren deuten darauf hin, dass die Komposition weiterverwendet worden ist.
Die Zuschreibung des Blattes ist seit jeher umstritten. Harzen selbst hat in seinen beiden Inventaren zwischen Pontormo und dessen Schüler Bronzino geschwankt. In der Folgezeit haben sich um diese beiden Positionen zwei Lager gebildet. Einmütigkeit herrscht darüber, dass die Zeichnung mit Pontormos Entwurfstätigkeit für die beiden Medici-Villen in Careggi und Castello in Zusammenhang steht. Zunächst entwarf er 1535/36 im Auftrag Alessandro de’ Medicis einige Fresken für eine Loggia in der von Michelozzo für Cosimo d. Älteren erbauten Villa von Careggi. Diese war 1527 nach Vertreibung der Medici teilweise zerstört und um 1531 baulich wiederhergestellt worden. Die Ausführung übernahmen unter Pontormos Leitung Agnolo Bronzino und einige weitere Mitarbeiter. Die Vollendung der Arbeiten wurde nach der Ermordung von Alessandro 1536 gestoppt. Kurz darauf erhielt Pontormo von Großherzog Cosimo I. den Auftrag, für eine Loggia im Schloss von Castello Fresken zu entwerfen. Die Ausführung wurde wiederum von Bronzino und anderen Künstlern übernommen. Hinzu kommt, dass Alessandro für Careggi die Ausmalung einer weiteren Loggia plante, die jedoch aufgrund seines unerwarteten Todes nicht mehr verwirklicht wurde. Dennoch ist nicht undenkbar, dass Pontormo bereits Vorstudien hierfür angefertigt hatte.
Von beiden ausgeführten Freskenzyklen haben sich keinerlei Spuren erhalten. Es bedeutete für die Pontormo-Forschung daher eine große Herausforderung, aus dem erhaltenen zeichnerischen Œuvre des Künstlers einzelne Blätter mit diesen Projekten in Verbindung zu bringen.
Ausgangspunkt aller Überlegungen muss Vasari sein, der ausdrücklich belegt, dass Pontormo als Entwerfer anzusehen ist, sodass ehemals zahlreiche Zeichnungen existiert haben müssen. Er überliefert auch die Programme der Fresken; demnach waren in Careggi fünf Figuren gemalt worden, nämlich die Personifikationen des Schicksals, der Gerechtigkeit, des Sieges, des Friedens und des Ruhmes.(Anm.1) Problematisch ist, dass Vasari selbst in seiner Vita Bronzinos diese Angaben etwas relativiert, indem er unter dessen Arbeiten für Careggi eine Prudentia (anstelle der Vittoria) erwähnt.(Anm.2)
Für Castello berichtet Vasari, dass Pontormo fast völlig nackte Frauengestalten, nämlich die Philosophie, die Astrologie, die Geometrie, die Musik und die Arithmetik und eine Ceres entworfen habe.(Anm.3)
Diese Figuren werden ausdrücklich aufgrund ihrer besonderen Gestaltung erwähnt. Sie erschienen Vasari in ihren Proportionen „doch recht mißgestaltet, und manche der dort gezeigten Verdrehungen und Haltungen“ vermittelte ihm den Eindruck, „als fehle ihnen jegliches Maßverhältnis (…)“.(Anm.4)
Vor diesem Hintergrund ist die genaue Zuordnung des Hamburger Blattes zu den Fresken keineswegs zwingend. Denn aufgrund der fehlenden ikonographischen Eindeutigkeit (siehe oben) lässt sich die Figur keinem der Zyklen unzweifelhaft zuordnen. Denkbar ist auch, dass es sich um ein Modello für eine der später nicht ausgeführten Teile in Careggi oder um eine verworfene Idee für Castello handelt. Mit diesem Projekt verbindet sich die Figur auf jeden Fall stärker aufgrund der oben beschriebenen und von Vasari kritisierten „unklassischen“ Züge. Eine eindeutige Bestimmung erscheint nicht möglich. Im Gegensatz zu dieser Einschätzung steht die bislang in der Literatur seit Pauli fast unisono vertretene Zuordnung des Blattes zu Careggi. Lediglich vereinzelt wurde Castello favorisiert.
Trotz der bei Vasari eindeutig vermerkten Entwurfstätigkeit Pontormos wurde dessen Urheberschaft an dem Blatt wiederholt – so von Anna Forlani Tempesti (Anm.5), Philippe Costamagna (Anm.6) und Craig Hugh Smyth (Anm.7) bezweifelt.(Anm.8) Sie hielten eine mögliche Autorschaft Bronzinos, der ja auch an der Ausführung der Fresken beteiligt war, für denkbar. Franklin sah in dem „somewhat finicky, rather pneumatic approach to certain parts of the drawing“ (Anm.9), ebenfalls Kennzeichen von Bronzinos Stil. Dennoch zweifelte er nicht an der Autorschaft Pontormos. Denn für ihn war es mehr als fraglich, dass Bronzino bereits in den 1530er Jahren über eine so hohe künstlerische Qualität, wie sie die Zeichnung aufweist, verfügte.(Anm.10)
Verglichen mit anderen Kreidestudien Pontormos wirkt die Hamburger Zeichnung tatsächlich relativ fest, vor allem im Konturbereich, was aber vielleicht vornehmlich der Funktion als einer konkreten Vorstudie zuzurechnen sein dürfte. Größere Ähnlichkeit weist die Figur zu einer ebenfalls mit den Freskenzyklen in Verbindung gebrachten Zeichnung Pontormos in den Uffizien auf.(Anm.11) Dort finden sich ebenfalls eine Konturbetonung, die leichten Verzerrungen der Anatomie sowie eine sorgfältige Modellierung. Interessant ist auch, dass die Figur in ähnlicher Haltung, jedoch bekleidet, auf einem nach einem Entwurf Pontormos gefertigten Teppich Verwendung fand.(Anm.12) Für Pontormo spricht auch, dass seine grundsätzliche Erfindung der Figur niemals in Frage gestellt wurde. Letztlich lassen auch die kleineren Detailstudien auf Recto und Verso keinen Zweifel daran, dass Pontormo als Zeichner anzusehen ist. So kann die kleine, aber aufgrund ihrer Torsion markante Figur einer nackten Frau am unteren linken Bildrand hervorragend mit seinen Arbeiten für das zerstörte Chorfresko in San Lorenzo in Florenz in Verbindung gebracht werden.(Anm.13) Sie ist sehr gut vergleichbar mit der Haltung der Eva auf der Darstellung der „Arbeiten von Adam und Eva“.(Anm.14) Die Bruststudie auf dem Verso ähnelt in der Zeichenweise deutlich einem Rückenakt, den Pontormo im Zusammenhang mit seinen Studien für die „Vier Evangelisten“ anfertigte.(Anm.15)
Einhellig Pontormo zugeschrieben wurde interessanterweise die feine Darstellung einer Madonna mit Kind auf der Rückseite des Blattes. In ihr sah Cox-Rearick möglicherweise die Vorstudie zu einem bei Vasari erwähnten Madonnenbild, das Pontormo für den Steinmetz seines etwa 1535 erbauten Hauses gemalt habe. Diese Vermutung bleibt jedoch hypothetisch, da das Bild heute nicht mehr nachweisbar ist.
Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist es unvorstellbar, dass Bronzino als Schüler die Hauptzeichnung und Pontormo als Lehrer die weniger präsenten Nebenszenen auf dem Blatt ausgeführt haben soll. Wahrscheinlich erscheint vielmehr, dass sämtliche Elemente des Blattes auf Pontormo zurückgehen. Die Entstehung der Hauptfigur dürfte Mitte der 1530er Jahre anzunehmen sein. Ob Pontormo die kleineren Studien gleichzeitig schuf oder später hinzufügte, lässt sich nicht sicher entscheiden. Letzteres dürfte aber wahrscheinlich sein. Wenig überzeugend ist Pilliods Vorschlag, dass das gesamte Blatt aufgrund der Bezüge zu den Arbeiten für S. Lorenzo später zu datieren ist.

David Klemm

1 Giorgio Vasari: Das Leben des Pontormo. Neu übersetzt, kommentiert u. hrsg. v. Katja Burzer, Berlin 2004, S. 55.
2 Ebd., S. 110, Anm. 166.
3 Ebd., S. 56.
4 Ebd.
5 Firenze e la Toscana dei Medici nell’ Europa del Cinquecento. Il primato del disegno, Ausst.-Kat. Florenz, Palazzo Strozzi, Palazzo Vecchio, Florenz 1980, S. 176 (Beitrag Anna Forlani Tempesti); vgl.Anna Forlani Tempesti: Note al Pontormo disegnatore, in: Paragone 18, 1967, Nr. 207, S. 70-86.
6 Philippe Costamagna: Pontormo, Mailand 1994, S. 232.
7 Craig H. Smyth: Bronzino as Draughtsman. An Introduction; with notes on his portraiture and tapestries, New York 1971, S. 50, Anm. 18.
8 Zur Diskussion der Zuschreibung vgl. Elisabeth Pilliod: Pontormo, Bronzino, Allori: A Genealogy of Florentine Art, New Haven, London 2001, S. 241, Anm. 101.
9 Leonardo da Vinci, Michelangelo and the Renaissance in Florence, hrsg. v. David Franklin, Ausst.-Kat. Ottawa, National Gallery of Canada, Ottawa 2005, S. 222 (Beitrag David Franklin).
10 Ebd.
11 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 6584 F; vgl. L’officina della maniera. Varietà e fierezza nell’arte fiorentina del Cinquecento fra le due repubbliche 1494-1530, hrsg. v. Alessandro Cecchi, Antonio Natali, Ausst.-Kat. Florenz, Galleria degli Uffizi, Venedig 1996, S. 151–153.
12 Rom, Palazzo Quirinale. Vgl. Elisabeth Pilliod: Pontormo, Bronzino, Allori: A Genealogy of Florentine Art, New Haven, London 2001, S. 36.
13 Zu Pontormo und S. Lorenzo vgl. Massimo Firpo: Gli affreschi di Pontormo a San Lorenzo. Eresia, politica e cultura nella Firenze di Cosimo I., Turin 1997.
14 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 6535 F.
15 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 6750 F.

Details zu diesem Werk

Schwarze Kreide, schwarzer Stift; aufgezogen 350mm x 260mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21173 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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