Giovanni Antonio Canal, gen. Canaletto

Blick auf die Vierung und in das nördliche Querschiff von S. Marco in Venedig, 1766

Wie kein zweiter Künstler hat Canaletto mit seinen zahlreichen topographischen Darstellungen das Bild Venedigs bis heute geprägt. Dabei ist auffallend, dass
er lediglich von San Marco Innenansichten geschaffen hat. Die großformatige Hamburger Zeichnung zählt innerhalb dieser Gruppe zu den beeindruckendsten Darstellungen. Sie ist in ihrer perfekten Inszenierung und sorgfältigen Ausführung ein Kunstwerk für sich, das keiner Umsetzung mehr in ein Gemälde bedarf. Der Reiz des Blattes liegt in dem geschickt gewählten Blickwinkel, der die schwer darstellbare, komplexe Architektur von San Marco ahnen lässt, ohne ihr zu viel Gewicht zu geben. Bei aller Genauigkeit der Wiedergabe verlor sich der Künstler nicht in Kleinteiligkeit, auch verzichtete er auf die Wiedergabe der für die Kirche so charakteristischen dunkel-mystischen Raumatmosphäre. Canaletto war sich des Ranges dieser letzten von ihm datierten Zeichnung offenbar voll bewusst. Nicht ohne Stolz beschriftete er das Blatt mit einem Text, der sein Alter von 68 Jahren erwähnt.

David Klemm
Innenansichten von S. Marco in Venedig sind die einzigen Kircheninterieurs, die Canaletto geschaffen hat. Neben Gemälden mit Blick durch das Langhaus zum Chor (Anm.1) und Darstellungen der Chorpartie (Anm.2) hat ihn wiederholt der Blick aus dem südlichen Querschiff auf die Vierung und ins nördliche Querhaus beschäftigt. Die 1766 datierte Hamburger Zeichnung zählt innerhalb dieser Gruppe zu den besonders beeindruckenden Darstellungen.
Canaletto hat die Ansicht mit mindestens drei Zeichnungen vorbereitet. Eine Studie in der ehemaligen Sammlung Janos Scholz zeigt die südliche Kanzel ohne Sänger sowie die Chorwand in Umrissen.(Anm.3) Ebenfalls auf die Umrisse beschränkt sich eine Zeichnung im Victoria & Albert Museum in London, die den selben Bildausschnitt, aber ohne Staffagefiguren, zeigt.(Anm.4) Letztlich skizziert der Künstler auf einer Zeichnung in Weimar den unteren Teil der Architektur mit Federstudien von Staffagefiguren.(Anm.5) Eine der Personen, der aufblickende Mann am linken Rand, ist im rechten Vordergrund der Hamburger Zeichnung wieder verwendet worden. Wie in Weimar so hockt auch in Hamburg eine alte Frau auf den Stufen des Seitenaltars.
Vergleicht man die Ansicht Canalettos mit der heutigen Situation in der Kirche, so wird deutlich, dass der Künstler die Architektur und Ausstattung sehr genau wiedergegeben hat. Lediglich das Mosaik mit Märtyrern an der Nordwand des Querhauses wurde von ihm stark vereinfacht.
Verschwunden ist der an der Nordwand erkennbare altarähnliche Aufbau, dessen Funktion offensichtlich nicht genau geklärt werden kann. Trudzinski hat in Erwägung gezogen, dass Canaletto hier den auf einem Podest platzierten Reliquienschrein mit den Gebeinen des selig gesprochenen Dogen Pietro Orseolo dargestellt hat.(Anm.6) Clayton wies dies mit dem Hinweis zurück, dass die Ähnlichkeit des Schreins mit dessen auf einem Kupferstich dokumentierten Gestalt nur allgemeiner Art sei.(Anm.7) Darüber hinaus gibt der Künstler mit den eifrigen Sängern, dem auf dem Boden knienden Gläubigen und dem kauernden Hund Einblicke in den Kirchenalltag jener Zeit.
Das Blatt erhält seinen Reiz durch den geschickt gewählten Blickwinkel, der die schwer darstellbare, komplexe Architektur von S. Marco ahnen lässt, ohne ihr zu viel Gewicht einzuräumen. Bei aller Genauigkeit der Wiedergabe verliert sich Canaletto nicht in Kleinteiligkeit; was z. B. an der Art der Personendarstellung ablesbar ist. Wenig zu spüren ist von der einzigartigen, durch die Goldmosaiken hervorgerufenen dunkel-mystischen Raumatmosphäre von S. Marco. Canalettos Wiedergabe zeigt einen in relativ gleichmäßiges Licht getauchten Raum, in dem starke Licht-Schatten-Kontraste fehlen. Zu der ruhigen Gesamtwirkung trägt die sorgfältige Lavierung des Blattes mit grauer Tusche bei.
Eine stärker gedämpfte Stimmung erzielte Canaletto auf einer um 1735 entstandenen Zeichnung mit derselben Raumsituation durch die Verwendung vibrierender Federstriche.(Anm.8)
Die großformatige Hamburger Ansicht von S. Marco zählt sicher zu Canalettos anspruchsvollsten topographischen Zeichnungen. Sie ist in ihrer perfekten Inszenierung und Ausführung ein Kunstwerk für sich, das keiner Umsetzung mehr in ein Gemälde bedarf.
Canaletto war sich des Ranges dieser Zeichnung offensichtlich voll bewusst. Nicht ohne Stolz beschriftete er das Blatt mit einem Text, der sein Alter von 68 Jahren erwähnt und hervorhebt, dass er diese Zeichnung ohne Zuhilfenahme einer Brille oder Gläsern angefertigt hat.
Die Ansicht ist von besonderem dokumentarischen Wert, da sie die letzte sicher datierte Zeichnung des Künstlers darstellt, der zwei Jahre später verstarb.
Sammlungsgeschichtlich ist dieses Hauptblatt des Kupferstichkabinetts von Interesse, da es eine der ganz wenigen herausragenden Zeichnungen des 18. Jahrhunderts aus dem Nachlass Georg Ernst Harzens darstellt. Dieser hat Canalettos große Zeitgenossen Tiepolo, Piazzetta und Guardi gar nicht gesammelt und auch von Canaletto nur dieses eine Blatt besessen. Vor diesem Hintergrund kann vermutet werden, dass er die Innenansicht von S. Marco vor allem aus persönlichen Motiven erworben hat.

David Klemm

1 William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768. Second Edition, revised by J. G. Links. Reissued with Supplement and additional Plates, Oxford 1989, Nr. 78, 79.
2 William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768. Second Edition, revised by J. G. Links. Reissued with Supplement and additional Plates, Oxford 1989, Nr. 561 und 561*.
3 William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768. Second Edition, revised by J. G. Links. Reissued with Supplement and additional Plates, Oxford 1989, Nr. 560.
4 London, Victoria & Albert Museum und Sammlung Paul Wallraf; Inv.-Nr. 411.85; William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768. Second Edition, revised by J. G. Links. Reissued with Supplement and additional Plates, Oxford 1989, Nr. 559. Vgl. William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768, 2 Bde., Oxford 1962, II, S. 454, Nr. 559–560.
5 Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. KK 8720; vgl. Geheimster Wohnsitz. Goethes italienisches Museum. Zeichnungen aus dem Bestand der Graphischen Sammlung der Kunstsammlungen zu Weimar (...),bearb. v. Hermann Mildenberger, Ursula Verena Fischer Pace, Sonja Brink, Lea Ritter-Santini, Im Blickfeld der Goethezeit III, Ausst.-Kat. Kunstsammlungen zu Weimar, Vaduz, Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung, Weimar 1999, S. 124–125, Nr. 24.
6 Ausst.-Kat. Hannover 1992, S. 286 (Beitrag Meinolf Trudzinski).
7 Martin Clayton: Canaletto in Venice, o. O. 2006, S. 164–165.
8 Windsor Castle, Royal Library, Inv.-Nr. 7430; Martin Clayton: Canaletto in Venice, o. O. 2006, S. 162–163.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun über schwarzem Stift, grau laviert, stellenweise mit Deckweiß gehöht 357mm x 271mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21112 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. Bildnachweis: Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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