Anonym, 2. Drittel 16. Jahrhundert (italienisch)

Der Borgobrand

Das Blatt zählt zu der Gruppe von Zeichnungen in der Sammlung, die den lang anhaltenden Einfluss der Kompositionen Raffaels vor Augen führen. Anders als bei den Rötelstudien nach dem Amor und Psyche-Zyklus (Inv.-Nr. 21587, Inv.-Nr. 52158) liegt hier aber keine schlichte Kopie, sondern vielmehr eine nachschöpferische Lösung vor. Unverkennbar weist das als „Borgobrand“ bezeichnete Blatt Anklänge an Raffaels berühmte Komposition in der Stanza dell’Incendio di Borgo im Vatikan auf. Mit einigem Geschick hat der anonyme Künstler prominente und weniger hervortretende Figuren aus Raffaels Komposition zu einer neuen, durchaus überzeugenden Lösung zusammengebracht. So sind die Krugträgerin vorne rechts und die Gruppe um die Rettung des Kindes links direkt übernommen. Andere Figuren wie die verzweifelte Frau im Vordergrund wurden verändert. Durch den Verzicht auf einige Figuren – z. B. die Aeneas-Gruppe – sowie durch den Wechsel ins Hochformat ist das Geschehen gegenüber der Lösung Raffaels verdichtet. Generell ist die Katastrophe des Brandes auf der Hamburger Zeichnung effektvoller und stärker nachvollziehbar dargestellt – dieses Stadtviertel steht voll in Flammen. Zur Steigerung der Wirkung dieser Komposition wählte der Zeichner das Mittel der dramatisierenden Strichführung; engstehende Parallel- und Kreuzschraffen erzeugen dunkle Bildpartien.
Das Blatt wurde von Georg Ernst Harzen dem Cremoneser Maler Camillo Boccaccino (1504/05–1546) zugeschrieben. Diese Zuweisung ist insofern nachvollziehbar, als Blätter dieses Künstlers eine zum Teil ähnliche Verwendung von Parallel- und Kreuzschraffen aufweisen.(Anm.1) Zudem lassen sich auch kompositionelle Entsprechungen aufzeigen. Eine Zeichnung in der Ambrosiana in Mailand mit der „Auferweckung des Lazarus“ lässt eine ähnliche Neigung zur dramatisierenden Darstellung erkennen.(Anm.2) Wenn auch eine Zuweisung an Boccaccino nicht vollends überzeugend ist, so scheint doch eine Verankerung des Blattes in Norditalien, z. B. im Campi-Kreis, sinnvoll. Einzelne Zeichnungen – z. B. von Giulio Campi – erinnern im Duktus und in der Figurenanlage an das Hamburger Blatt, weisen aber nicht dessen extrem dichte Schraffur auf.(Anm.3) Nicholas Turner dachte an Gerolamo Romanino (1484/87–1562).(Anm.4) Auf dem Hamburger Symposium wurde auch eine spätere Entstehung um 1600 in Erwägung gezogen.(Anm.5) Eine zwischenzeitlich erwogene Zuschreibung an Adam Elsheimer (1578–1610) (Anm.6) und Melchior Lorch (um 1526–um 1586) entbehrt der Grundlage.

David Klemm

1 Ehemals Sammlung Ratjen, Vaduz; Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 2089; vgl. Giulio Bora: I Disegni Lombardi e Genovesi del Cinquecento, Treviso 1980, S. 30–32, Nr. 33–34.
2 Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. F 265 inf. n. 99. Vgl. Giulio Bora: I Disegni Lombardi e Genovesi del Cinquecento, Treviso 1980, S. 32, Nr. 36. Vgl. z. B. die Frauenfigur im Vordergrund und die sich oben rechts über die Brüstung neigende Figur.
3 Wien, Albertina, Grafische Sammlung, Inv.-Nr. 1557; vgl. Drawings from Cremona 1500-1580. The art of the Renaissance and Mannerism in the Lombard city, hrsg. v. Martin Zlatohlávek, Giulio Bora, Ausst.-Kat. Prag, Nationalgalerie, Prag 1995, S. 102.
4 Anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
5 Ebd.
6 Vgl. Joachim Jacoby: Die Zeichnungen von Adam Elsheimer. Kritischer Katalog. hrsg. vom Städel Museum, Graphische Sammlung, Frankfurt am Main 2008, S. 361.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun 273mm x 209mm (Blatt) Inv. Nr.: 21097 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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