Filippino Lippi

Zwei Männer mit Gewändern und ein männlicher Akt, um 1480

Das beidseitig bezeichnete Blatt ist ein charakteristisches Beispiel für die im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts in Florenz beliebte Form der Figurendarstellung. Die Schwierigkeit der Forschung, derartige Studien konkreten Meistern zuzuordnen, spiegelt auch die wechselvolle Zuschreibungsgeschichte des Blattes wider.
Georg Ernst Harzen erwarb es noch als Werk Alessio Baldovinettis (1425–1499). Diese Einschätzung ging laut Harzen auf eine Ansicht des englischen Sammlers und Forschers William Young Ottley zurück. Er selbst hielt die Zeichnung für ein Werk Domenico Ghirlandaios. Zweifel an der im Kabinett beibehaltenen Zuschreibung an Baldovinetti äußerte 1891 auch Wilhelm Koopmann. Berenson schlug 1927 bei einem Besuch im Kabinett den wenig profilierten Davide Ghirlandaio vor und hat diese Zuschreibung 1938 in seinem Corpuswerk untermauert.(Anm.1) Berensons Ansicht vertrat auch Gustav Pauli.(Anm.2) 1950 lösten dann Popham und Pouncey das hypothetische Œuvre Davide Ghirlandaios wieder auf und ordneten viele der ihm ehemals zugeschriebenen Blätter Filippino Lippi und dessen Werkstatt zu.(Anm.3)
Ragghianti und Dalli Regoli schlugen 1975 erstmals die Möglichkeit zweier verschiedener Zeichner für die beiden Seiten des Blattes vor, wobei sie auf dem Verso Züge von Sandro Botticelli zu erkennen glaubten. Schaar ordnete die Zeichnung 1997 der Filippino-Schule zu, während Zambrano und Nelson 2004 das Blatt wieder uneingeschränkt Filippino Lippi selbst zuschrieben und eine Entstehung in den späten 1470er Jahren vermuteten.(Anm.4) Letztlich haben Carmen Bambach (Anm.5) und Lorenza Melli (Anm.6) die Zuschreibung an Filippino Lippi nachdrücklich bekräftigt. Bambach hält eine Entstehung um 1480 für wahrscheinlich, nicht zuletzt aufgrund des noch stark spürbaren Einflusses Sandro Botticellis, mit dem Lippi mehrere Jahre zusammengearbeitet hatte.
Nach heutigem Kenntnisstand ist demnach die Autorschaft Filippino Lippis am Hamburger Blatt wahrscheinlich. Allerdings handelt es sich wohl kaum – wie Nelson und Zambrano annahmen – um die Entwurfszeichnung für ein konkretes Werk.(Anm.7) Die Anlage des Blattes – beidseitig bezeichnet, aufwendig grundiert und sorgfältig ausgeführt – lässt eher auf eine bewusste und kontrollierte Anordnung schließen. Die Ähnlichkeit mit Figuren auf Gemälden Lippis wäre damit zu erklären, dass bei dem Hamburger Blatt auf einzelne Figurenstudien des Meisters zurückgegriffen wurde, um diese dann auf einer Art Musterblatt neu zu arrangieren. Auf seine Vorbildhaftigkeit deuten verschiedene Zeichnungen aus dem Umkreis Lippis in anderen Sammlungen hin, auf denen einzelne Motive der Hamburger Kompositionen nachweisbar sind.
Ein Blatt in der Sammlung Lugt in Paris zeigt die linke Figur in sehr ähnlicher, aber gröberer Form. Zudem ist sie in anderer Technik mit stärkerer Betonung des Metallstifts – der in Hamburg aber wohl etwas verblasst ist – sowie geringer Weißhöhung ausgeführt.(Anm.8) In den Uffizien gibt es eine identische Wiedergabe der beiden Verso-Figuren, allerdings in aufgelockerterer Form und mit stärkerem Einsatz von dünnlinigen weißen Höhungen.(Anm.9)
Angesichts der stilistischen Unterschiede ist es kaum vorstellbar, dass Lippi all diese Blätter eigenhändig ausgeführt hat. Für das Hamburger Blatt deutet die im Vergleich zu den beiden angeführten Zeichnungen in Paris und Florenz höhere Qualität – wie Carmen Bambach betonte (Anm.10) – auf die Beteiligung des Meisters hin, dennoch ist nicht völlig auszuschließen, dass dieses Blatt und auch vergleichbar arrangierte Kompositionen unter der Beteiligung besonders versierter Werkstattmitarbeiter entstanden sind.
Das Blatt genoß höchste Wertschätzung bei englischen Sammlern, wie anhand der beeindruckenden Provenienzkette zu erkennen ist. Die von Ragghianti Collobi und Schaar postulierte Herkunft des Blattes aus der Sammlung Vasaris ist nicht völlig auszuschließen, sie lässt sich jedoch anhand der alten Rahmung nicht begründen. Conrad Martin Metz (1749–1827), der zeitweilige Besitzer des Blattes, schuf zwei Faksimiles von Recto und Verso.(Anm.11)

David Klemm

1 Mündliche Mitteilung vom September 1927; Bernard Berenson: The Drawings of the Florentine Painters. Amplified Edition, 3 Bde., Chicago 1938, II, S. 86, Nr. 835 E.
2 Zeichnungen Alter Meister in der Kunsthalle zu Hamburg. Italiener. 30 Originalgetreue Lichtdrucke, hrsg. v. Gustav Pauli, Frankfurt am Main 1927, o. S., Nr. 5.
3 Vgl. Arthur Ewart Popham, Philip Pouncey: Italian Drawings in the Department of Prints and Drawings in the British Museum. The Fourteenth and Fifteenth Centuries, 2 Bde., London 1950, I, S. 85–89, Nr. 141–148; II, Taf. CXXVII-CXXXVIII.
4 Patrizia Zambrano, Jonathan Katz Nelson: Filippino Lippi, Mailand 2004, S. 215.
5 Mitteilung per E-Mail auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 5. 3. 2008.
6 Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 21. 3. 2008.
7 Nelson und Zambrano erkannten die rechte Figur in ähnlicher Haltung, aber bekleidet, auf der Londoner Anbetung Lippis wieder. Die mittlere Figur stellten laut Nelson und Zambrano eine Art Ideenskizze für den Erzengel Gabriel dar, so wie er auf einem Gemälde der Galleria Sabauda in Turin erscheint. Beide Zuordnungen sind wenig überzeugend. Die Ähnlichkeit ist lediglich allgemeiner Art. Vgl. Patrizia Zambrano, Jonathan Katz Nelson: Filippino Lippi, Mailand 2004, S. 215.
8 Paris, Fondation Custodia, Inv.-Nr. 5816; James Byam Shaw: The Italian Drawings of the Frits Lugt Collection, 3 Bde., Paris 1983, I, S. 12–13, Nr. 7, III, Taf. 8, Abb. 7 (ohne Erwähnung des Hamburger Blattes).
9 Florenz, Gabinetto Stampe e Disegni degli Uffizi, Inv.-Nr. 360 E; vgl. Annamaria Petrioli Tofani: Inventario 1. Disegni Esposti, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz 1986, S. 160, mit Abb.
10 Mitteilung per E-Mail auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 5. 3. 2008.
11 Vgl. die Angaben bei Rudolph Weigel: Die Werke der Maler in ihren Handzeichnungen. Beschreibendes Verzeichniss der in Kupfer gestochenen, lithographirten und photographirten Facsimiles von Originalzeichnungen grosser Meister, Leipzig 1865, S. 13, bei Nr. 134 und Nr. 135. Die beiden Faksimiles wurden 1798 in den „Imitations of drawings“ veröffentlicht.

Details zu diesem Werk

Metallstift auf rosa gestrichenem Papier, weiß gehöht; montiert und mit aufwendiger Rahmung versehen 196mm x 278mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21044 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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