Claude Marie François Dien, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder
Jacques-Louis Bance (auch: Bance aîné), Verleger

Bildnisse Raffaels und Peruginos, nach 1813

Für das vorliegende Künstler-Doppelbildnis orientierte sich der Stecher Claude-Marie-François Dien an einem Fresko Raffaels. Das vorliegende Blatt gibt die Portraits Raffaels und möglicherweise Peruginos aus der Schule von Athen (vgl. Inv-Nr. 719) wieder. Namhafte Persönlichkeiten aus der Geschichte der Wissenschaft und der Philosophie seit der Antike versammeln sich in Gruppen auf den Stufen, welche zum zentralen Disput zwischen Platon und Aristoteles hinaufweisen. (Anm. 1) In einer der Randgruppen finden sich nebeneinander auch die von Dien wiedergegebenen Bildnisse. Hinsichtlich der Identifikation der neben Raffaels Selbstbildnis gezeigten Person herrscht in der Forschung Uneinigkeit: Statt wie durch Dien auf dem Stich angegeben um Perugino könnte es sich auch um Giovanni Antonio Bazzi, gen. Sodoma handeln. (Anm. 2) Beide Maler waren zeitweise an der Ausgestaltung der Stanzen beteiligt und ein Abbilden neben dem eigenen Portrait könnte als Geste von Anerkennung und Respekt seitens Raffael gedeutet werden (Anm. 3) – zumal dieser in jungen Jahren bei Perugino lernte und über einen längeren Zeitraum Teil seiner Werkstatt war, wenngleich in der Forschung die Art und Weise, wie genau man sich jene Lehre und das Verhältnis der beiden zueinander vorzustellen habe und welche Aspekte impulsgebend für Raffael waren, kontrovers diskutiert wurde. (Anm. 4) Raffaels Entscheidung, sich gemeinsam mit Perugino oder Sodoma innerhalb eines Freskos abzubilden, welches von Lernen und Wachsen an der Weisheit der vorbildhaften Philosophen und Denker, aber vor allem auch von gegenseitigem Austausch handelt, könnte somit auch von Respekt und Anerkennung auf Augenhöhe – bei gleichzeitiger Aufwertung der bildenden Künste als Wissenschaft – zeugen. (Anm. 5)
Der Pariser Kupferstecher Dien wurde im Jahr 1809 mit dem Rompreis für Kupferstecher ausgezeichnet und verbrachte in der Folge die Jahre 1810–13 in Rom mit dem Studium nach Antiken und Alten Meistern. Das Œuvre Raffaels nahm unter Diens Publikationen einen besonders wichtigen Platz ein: Er erhielt 1838 und 1848 eine Medaille erster Klasse für beim Pariser Salon gezeigte Stiche nach Werken des Urbinaten. (Anm. 6) Auf dem vorliegenden Blatt gibt er an, „expensionnaire“ der Französischen Akademie in Rom zu sein; es ist daher wahrscheinlich, dass der Stich nach 1813 entstand. Vor diesem Entstehungshintergrund erscheint das gewählte Motiv des historischen Künstler-Doppelbildnisses interessant: Im Kreis romantischer Künstler besonders in Rom kam diesem Medium die Aufgabe des Manifestierens und häufig auch Idealisierens von Freundschaft und Seelenverwandtschaft untereinander zu. (Anm. 7) Die Darstellungsweise einer aus dem Bild herausblickenden und einer mit dem Blick innerhalb des Bildraums verbleibenden Person, welche sich bereits in Raffaels Fresko findet, erscheint auch in romantischen Künstlerdoppelbildnissen der Zeit (Anm. 8) – das von Dien (und anderen) abgekupferte Doppelbildnis war damals bekannt und wurde seinerseits nicht nur im Licht der angesprochenen möglichen Lesart der Anerkennung auf Augenhöhe, sondern auch im Kontext der nazarenischen „imitatio Raphaelis“ (Anm. 9) zum Vorbild des idealen (Freundschafts-)Bildnisses. Das Herauslösen der beiden Künstlerköpfe aus dem Fresko und der damit verbundene Fokus auf das Antlitz als Spiegel der Seele, das deutlichere Betonen von (Schwarz-Weiß-)Kontrasten sowie die auffällig starke Linearität im Vergleich zum Original lassen das vorliegende Blatt als quasi-individuelle Bildschöpfung Diens erscheinen, welche durch die aufgeführten stilistischen Charakteristika durchaus in Verbindung mit der Ästhetik gezeichneter Künstlerdoppelbildnisse um 1800 gebracht werden kann. (Anm. 10)
Klara Wagner

LIT (Auswahl): Apell 1880, S. 123, Nr. 16

1 In der Forschung wird die kunsthistorische Relevanz der Schule von Athen auch dahingehend betont, dass Raffael eine eigene Ikonographie für sein Fresko erfinden musste, da es noch keine etablierte Darstellungsweise der antiken Philosophen gab, dass er jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit vorab eine Richtlinie für das Bildprogramm von einer oder mehrerer anderer Personen bekam; vgl. Orth Bell 1995, S. 638; Most 1996, S. 146. Most schlägt außerdem als mögliche Textgrundlage für das Fresko eine Passage aus Platons Schrift Protagoras vor; Most 1996, S. 163–164. Orth Bell diskutiert außerdem ausführlich die anzunehmenden Identitäten der Dargestellten und schlägt für die zentral auf den Stufen sitzende Figur eine Identifikation als Sokrates vor; Orth Bell 1995, S. 641–642. Das Bildprogramm der Schule von Athen ist zugleich auch als Sinnbild Papst Julius’ II. als Förderer und Patron der Wissenschaften und der Schönen Künste zu verstehen; Brilliant 1984, S. 4. Paul Taylor argumentiert dafür, die Rolle von Papst Julius II. selbst hinsichtlich der Konzeption des Bildprogramms der Stanza della Segnatura nicht zu gering einzuschätzen und hält zumindest eine aktive Beteiligung an der Ausgestaltung seiner Bibliothek für mehr als wahrscheinlich; Taylor 2009, S. 105, S. 120.
2 Wagner 1969, S. 14 vergleicht das Bildnis der Begleitung Raffaels in der Schule von Athen mit einem Selbstbildnis Sodomas in Monte Oliveto Maggiore bei Siena und findet physiognomische Ähnlichkeiten. Auch er geht von einer Geste der Ehrerbietung seitens Raffaels aus und vergleicht sie mit Signorellis ebenfalls aus Respekt heraus motivierter Darstellung Fra Angelicos, „der ein halbes Jahrhundert zuvor am Gewölbe der Brizio-Kapelle im Orvietaner Dom zwei Felder bemalt“ habe. In beiden Fällen sei es dabei der Maler, welcher zum Betrachter gewendet erscheine, während die Begleitperson mit dem Blick im Bildraum verbleibt.
3 So ließ Raffael beispielsweise die durch Perugino ausgeführte Deckenausmalung in der Stanza di Eliodoro unberührt; Höper 2001, S. 369–371. Sodoma wurde durch den Urbinaten für die übernommene Dekoration und die Aufteilung der Decke in der Stanza della Segnatura weiter beschäftigt; seine Abbildung läge also rein aufgrund räumlicher Bezüge näher.
4 Siehe dazu vor allem die umfangreiche Diskussion und kritische Untersuchung der Lehrzeit in Rudolf Freiherr Hiller von Gaertringens 1999 veröffentlichter Studie. So sieht er zwar die künstlerische Auseinandersetzung mit den Werken anderer Künstler, ihre Adaption und eigene Verarbeitung als Schlüsselvorgehen von Raffaels Arbeitsweise an, betont jedoch zugleich das stetige Bedürfnis des Urbinaten, sich von seinen Vorbildern durch die Umarbeitung des Adaptierten zu einer eigenständigen Komposition abzusetzen. Ebenso sieht er das Vorgehen Peruginos und Werkstatt, einmal entworfene Kartons für zahlreiche Aufträge wiederzuverwenden, für den Anlass Raffaels, dieser Art des Kopierens gegenüber eine ablehnende Haltung einzunehmen und aus der Abgrenzung heraus einen ‚modernen’ Anspruch an sich selbst, Unikate zu schaffen, zu entwickeln. Entscheidender noch als das klassische Erlernen von Zeichnung, Komposition, Kolorit etc. erachtet er den Einblick in eine ausgezeichnete Strukturierung und Organisation der eigenen Werkstatt wie Perugino es ihm vorbildlich vor Augen geführt habe – Aspekte, die wiederum entscheidend für Aufbau und Organisation von Raffaels römischer Werkstatt geworden seien; Hiller von Gaertringen 1999, bes. S. 112–113, das Schema auf S. 52–53, sowie S. 301–311.
5 Die Gruppe, in welcher sich Raffael und Perugino befinden, umschließt auch zwei Figuren mit Himmels- und Erdglobus – ein Verweis auf Lehrgebiete, welche anders als die Bildenden Künste zu den artes liberales zählten. Für eine ausführliche Beschreibung und Diskussion der Gestaltung der Globen und ihrer Verknüpfung mit dem gesamten Bildprogramm der Stanza della Segnatura vgl. Sykes 2009. Möglicherweise diente Raffael ein tatsächlich in der damals dort untergebrachten Bibliothek des Papstes befindliches Globenpaar als Vorbild; Sykes 2009, S. 62–63.
6 Anderson-Riedel 2000, S. 245–246. Prämiert wurde Dien 1838 für einen Stich nach einer Heiligen Familie, 1848 für einen Stich nach Raffaels Sybillen. Im Zuge seines Aufenthaltes an der Französischen Akademie in Rom freundete er sich mit Ingres an und reproduzierte in der Folge zahlreiche von dessen Zeichnungen – ein Glücksfall für die Kunstgeschichte, da ein Großteil dieser durch den Brand der Sammlung Gatteaux im Jahr 1871 zerstört wurde und nur durch Diens Reproduktionsgraphiken überliefert ist.
7 Bulk 2017, S. 95; vgl. außerdem Schulze 1999, S. 221: „Als Signum besiegelte es ein Bündnis und stand symbolisch und beglaubigend für künstlerische Überzeugungen.“ Dass mit solchen (Doppel-)Portraits eine Bildformel existierte, mit welcher die oft wesentlich härtere Lebensrealität der Künstler, zu der auch Missgunst und Konkurrenz gehörte, verschleiert und idealisiert wurde, schreibt auch Wilhelm Schlink; Schlink 1997, S. 237, S. 242–243. Vgl. auch Lankheit 1952, S. 130.
8 Siehe dazu etwa das Gegenseitige Doppelbildnis Peter von Cornelius’ und Friedrich Overbecks, entstanden 1812, Privatbesitz; Carl Christian Vogel von Vogelsteins Bildnis der Brüder Riepenhausen, entstanden 1813, Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Cordula Grewe führt das erstgenannte Doppelbildnis Cornelius’ und Overbecks explizit im Vergleich mit dem Fresko und dem vorliegenden Reproduktionsstich von der Hand Diens an; Grewe 2012, S. 269–270.
9 Ebd., S. 270.
10 Ebd., S. 269–270.

Details zu diesem Werk

Kupferstich, Nadelschrift 219mm x 179mm (Bild) 352mm x 262mm (Platte) 540mm x 378mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 20490 Sammlung: KK Druckgraphik, Frankreich, 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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