Charles-Simon Pradier, Stecher
nach Jean Auguste Dominique Ingres, Maler, Erfinder

Raffael und die Fornarina / "RAPHAEL ET LA FORNARINE.", 1827 (?)

Der 1806 bis 1824 sowie 1835 bis 1841 in Rom lebende französische Maler Jean-Auguste-Dominique Ingres schuf insgesamt fünf gemalte Versionen von der Darstellung Raffaels mit seiner vermeintlichen Geliebten, der angeblich aus Siena stammenden und im römischen Trastevere lebenden Bäckerstochter Margherita Luti, gen. La Fornarina. (Anm. 1) Ingres stützte sich bei der Darstellung seiner Fornarina auf Raffaels eigenes Porträt einer jungen Frau, die die Legende bzw. der Kupferstecher Domenico Cunego in seiner Reproduktion des Bildes von 1772 als Bildnis der Fornarina genannten Bäckerstochter identifizierte bzw. diese auf seinem Kupferstich so benannte (Inv-Nr. kb-1915-643-9). (Anm. 2) Ingres’ früheste gemalte Version von 1813 verschwand 1941 im Museum von Riga durch Kriegseinwirkungen3, alle anderen Gemälde dieses Motivs befinden sich heute in den USA. (Anm. 4)
Der Kupferstecher Charles-Simon James Pradier reproduzierte um 1827 in dem vorliegenden Blatt Ingres’ 1814 auf dem Salon in Paris ausgestellte zweite Version, die sich seit seit 1943 im Fogg Art Museum in Cambridge in den USA befindet. (Anm. 5) Das Gemälde Raffaels mit dem Antlitz der Fornarina steht im Atelier auf der Staffelei rechts und ist im Entstehen begriffen, während des Künstlers Geliebte auf seinem Schoß sitzt und ihn von der Arbeit abzulenken scheint. Doch ist sie hier als seine Muse gezeigt, die im Gegenteil durch ihre Anwesenheit die künstlerische Arbeit des Genies beflügelt. Während die Fornarina den Betrachter herausfordernd mit ihren Augen fixiert, blickt Raffael bereits wieder auf das noch unfertige
Gemälde, durch das ablenkende, erotische Intermezzo höchst inspiriert und die nächsten Arbeitsschritte auf der Leinwand bereits fest ins Auge fassend.
Pradier entstammte einer Familie von Emigranten aus dem Languedoc und kam in Genf zur Welt. Sein Bruder Jean-Jacques (James) Pradier war ein bekannter Schweizer Bildhauer. Er selbst war künstlerisch höchst talentiert und wurde bei Auguste Gaspard Louis Boucher Desnoyers zu einem der führenden Kupferstecher seiner Zeit in Paris ausgebildet. 1816 bis 1818 hielt Pradier sich zur Gründung einer Kunstakademie in Brasilien auf. Im Jahr 1825 erhielt er von Ingres die Erlaubnis, einen Reproduktionsstich nach dessen Gemälde Vergil trägt seine Aeneis Kaiser Augustus vor6 anzufertigen. Dieser Stich brachte ihm das Kreuz der Ehrenlegion ein. Auch Pradiers letztes Werk, entstanden zurückgekehrt nach Genf 1847, seinem Todesjahr, widmete sich einem Gemälde von Ingres: Christus übergibt Petrus die Schlüssel. (Anm. 7)
Mithilfe von Pradiers in der Wiedergabe der Tonwerte der Ingres’schen Farben sehr gut gelungenen genauen Reproduktion wurde Ingres’ mit unterschwelliger Erotik gewürzte Komposition Raffael und die Fornarina zu einer der bekanntesten Szenen aus dem privaten Leben des Urbinaten und fand in ganz Europa Bewunderer und Nachahmer. Das Hamburger Exemplar befand sich ursprünglich in der Sammlung des in Paris tätigen französischen Kupfer- und Stahlstechers Augustin-François Lemaître, also eines im selben Metier wie Pradier arbeitenden Künstlerkollegen.
Andreas Stolzenburg

Apell 1880, S. 341, Nr. 7; Höper 2001, S. 513, Nr. J 1.1, Abb. S.
512 (Exemplar mit Angabe der Verkaufsstellen und des Druckers Chardon père;
mit älterer Lit.)


1 Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Bildmotivs siehe Poeschel 2002.
2 1518–20, Rom, Galleria Nazionale, Inv.-Nr. 2333; Öl auf Pappelholz, 85,5 x 61,5 cm, Meyer zur Capellen 2008, S. 144–149, Abb. S. 72 (als Raffael).
3 Radius/Camesasca 1968, S. 94, Nr. 72a.
4 Radius/Camesaca 1968, S. 94–95, Nr. 72b; Ausst.-Kat. Paris 2006, S. 218, Abb. 160 (1814, Cambridge, Massachusetts, Harvard Art Museums/Fogg Museum; vgl. Abb. 18 auf S. 63),Nr. 72c (Privatbesitz, U.S.A.), Nr. 72d; Ausst.-Kat. Paris 2006, S. 218, Nr. 70 (1846, Columbus/Ohio, Columbus Museum of Art; vgl. Abb. 19 auf S. 64), Nr. 72e; Ausst.-Kat. Paris 2006, S. 218, Abb. 161 (unvollendet; 1850–1865, Norfolk, Chrysler Museum, ehem. New York, Knoedler). Vgl. eine Bleistiftzeichnung von 1825 im Musée du Louvre in Paris; Ausst.-Kat. Paris 2006, S. 218, Abb. 162.
5 Vigne 1995, S. 122, Abb. 93 auf S. 124. Vgl. Beitrag Stolzenburg, S. 62–63.
6 1812 (?), Öl auf Leinwand, 302 x 325 cm, Toulouse, Musée des Augustins; Radius/Camesasca 1968, S. 93–94, Nr. 69.
7 1820, 1841 überarbeitet, Öl auf Leinwand, 280 x 217 cm, Montauban, Musée Ingres; Radius/Camesasca 1968, S. 100, Nr. 104.

Details zu diesem Werk

Kupferstich; Nadelschrift 465mm x 369mm (Bild) 578mm x 449mm (Blatt) 594mm x 460mm (Platte) 732mm x 537mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 20410 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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