Pierre Langlumé, Drucker, Lithograph

Die Künste und der Anstand / "Les arts et la décence", 1824

In der Hoffnung, der zeichnenden Frau und der Kunst wieder zur Anständigkeit zu verhelfen, verdeckt die Alte die Statue mit ihrem Hut. Die Karikatur spielt auf die auch 1824 immer noch ungewohnte Freiheit der Frauen an, die sehr lange nicht vor antiken Skulpturen, geschweige denn vor dem männlichen Aktmodell zeichnen durften. Der Titel unterstreicht auf humorvolle Weise diese Diskrepanz zwischen den in der Kunst geforderten Idealen und den bürgerlichen Anstandsregeln.

Auf einem hohen Sockel steht die (wahrscheinlich erfundene) antike Marmorskulptur eines Athleten, der wohl als Diskuswerfer zu identifizieren ist. Sein angewinkelter rechter Arm weist mit dem Zeigefinger der Hand auf eine unterhalb des Sockels auf einem Stuhl sitzende, junge Frau, wohl eine Kunstschülerin. Sie hält ein Zeichenbrett mit der linken Hand auf ihrem Schoß, die rechte Hand hält einen Zeichenstift, der ihr in diesem Moment der Überraschung bzw. vor Schreck aus der Hand zu fallen scheint. Ihr leicht geöffneter Mund und ihre Augen zeugen ebenfalls von der Überraschung, die sie beim Zeichnen der Skulptur soeben ereilt. Eine alte, in einfache, bäuerliche Kleidung gewandete Frau – der Korb auf dem Sockel gehört wohl zu ihr – steht neben der Skulptur auf einem Hocker aus Korb. Sie bindet mit empörtem Gesicht dem Diskuswerfer einen weitausladenden, mit Schleifen verzierten Sommerhut, der sicher der zeichnenden Frau gehört, vor den Bereich seines Genitals, um dieses vor den Augen der jungen Frau zu verbergen. Die Alte will mit diesem Akt der Zensur der Frau und der Kunst wieder zu moralischer Anständigkeit verhelfen. Diese Darstellung spielt auf die auch 1824 noch immer ungewohnte
Freiheit der Frauen an, die sehr lange nicht vor antiken Skulpturen oder deren Gipsen, geschweige denn vor dem männlichen Aktmodell zeichnen durften. Der Titel unter dem Bild kommentiert diese Begebenheit und verweist auf die Diskrepanz zwischen den Idealen der Kunst und den bürgerlichen Anstandsregeln . In Ermangelung des Zuganges zu den Kunstakademien muss man sich diese junge Frau wahrscheinlich im Pariser Louvre vorstellen, wo sie ungestört antike Bildwerke zu zeichnen gedachte. Barincous Karikatur bringt die Empörung durch die alte Frau aus dem Volk, die kaum den Louvre betreten hätte, pointiert und amüsant auf den Punkt. Frauen dürfen in der Öffentlichkeit nicht zeichnen und schon gar nicht nackte Männer! Diese seltene und als Zeitdokument kulturhistorisch interessante Lithographie des Künstlers A. Barincou, über den nichts weiter bekannt ist, druckte der französische Lithograph Pierre Langlumé (1790–1830), der seine Druckanstalt in der Rue de Abbay Nr. 4 in Paris hatte. Das amüsante Blatt wurde als Teil einer in ihrem Umfang nicht genau
beschriebenen Folge zu den Künsten veröffentlicht (Anm. 1).
Trotz der im repressiven kulturellen Klima der Restauration in Frankreich unter Karl X. sicher als unangemessen empfundenen Darstellung ist diese am 21. Mai 1824 per Erlass des französischen Königs durch die Pariser Zensurbehörde zur Veröffentlichung frei gegeben worden, wie dieses Exemplar belegt.

Andreas Stolzenburg

1 Vgl. A. Barincou, Pierre Langlumé: Die Künste und das Elend /
„Les arts et la Misère“, 1824, Lithographie, Paris, Bibliothèque national de France; Abbildung nachgewiesen bei: https://cdr.lib.
unc.edu/concern/multimeds/5999nd90w?locale=en (letzter Aufruf:
18.08.2024).

Details zu diesem Werk

Unter dem Bildfeld bezeichnet: „Les arts et la décence“; unten links im Bildfeld signiert: „Barincou“; unten links unterhalb des Bildfeldes Behörden-Stempel mit drei Königslilien in einem Oval in der MItte und außen dem Schriftzug: "Ordonnance du Roi 1er Mai 1822 [oben]; "[...] de la Librairie" [unten]; unten rechts zweizeiliger Schriftstempel: [...] appreuvé de B[...] de [...] / à Paris les 21 mai 1824 ["21 mai" und "4" mit Feder in Braun dem Stempel handschriftlich hinzugefügt] le chef de la [...]; darunter Unterschrift: "Pereu[...]s" (Feder in Braun; unleserlich)

Privatbesitz; erworben 2023 von der Galerie Gerda Bassenge, Berlin, Auktion 122 v. 29. 11. 2023, mit Mitteln des Fördervereins "Die Meisterzeichnung. Freunde des Hamburger Kupferstichkabinetts e. V."

Druckgraphik des 15. bis 19. Jahrhunderts. Sondersammlung C. W. Kolbe; Auktion 122 v. 29. 11. 2023, 2023, S. 263, Abb. S. 263, Abb.-Nr. , Kat.-Nr. 5386

Objekt: Akte Antike Anatomie: Zeichnend die Welt erschließen, Stolzenburg, Andreas , 1963- (HerausgeberIn); Wenderholm, Iris , 1977- (HerausgeberIn); Hamburger Kunsthalle (Herausgebendes Organ); Michael Imhof Verlag (Verlag); Universität Hamburg Kunstgeschichtliches Seminar (Herausgebendes Organ), 2024, S. 302, Abb. S. 303, Abb.-Nr. , Kat.-Nr. 95

Lithographie, 249mm x 197mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 2023-185 Sammlung: KK Druckgraphik, Frankreich, 19. Jh. Anzahl Teile: 1 Bildnachweis: Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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