Anonym (20. Jahrhundert), Lithograph

Leo X. am Sterbebett Raffaels / "Le pape Léon X devant la dépouille mortelle de Raphaël - 1520.", 1905

Im 19. Jahrhundert weitete sich die Praxis des Sammelns von akademisch-wissenschaftlichen Feldern zunehmend auf die Alltagskultur aus. (Anm. 1) Ein Paradebeispiel sind die hier vorliegenden Sammelbilder, welche sechs Szenen aus dem Leben Raffaels zeigen. Als eine unter tausenden von Serien, welche die Firma Liebig ab 1872 zunächst in Frankreich, später auch in Deutschland und weiteren europäischen Ländern heraus gab, (Anm. 2) ermöglichten sie das Sammeln der „Welt in ihrer Vielfalt“ (Anm. 3) von zuhause aus.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen verschiedene Firmen mit der Beigabe von Bildchen zu ihren Produkten. (Anm. 4) Zunächst handelte es sich hier bei um vergleichsweise kostspielige Waren wie Kakao oder Schokolade, so dass die Sammlergemeinde überwiegend aus dem gehobenen Bürgertum stammte. (Anm. 5) Typischerweise war auf der Vorderseite der Name der Firma oder das Produkt selbst abgebildet, während sich auf der Rückseite häufig Rezepte oder – wie auch im vorliegenden Fall – Erläuterungen zu den Bildern fanden. Bald sortierten nicht nur Kinder die Bildchen in Alben ein: In den 1890er Jahren entstanden Vereine für Sammler von Liebigbildern, Zeitschriften wurden gegründet und in Hamburg eröffnete das „Erste Liebig-Bilder-Special-Geschäft“. (Anm. 6) Angesichts der enormen Nachfrage nach den Bildchen und der dadurch erreichten Bindung der Käuferschaft an das eigene Produkt nahmen ab 1890 weitere Firmen die Praxis auf. Liebig und Stollwerck setzten Maßstäbe nicht nur in Bezug auf die Motive (häufig wurden Druckstöcke übernommen oder sogar Fälschungen in Umlauf gebracht) (Anm. 7), sondern auch im Hinblick auf das Format (Anm. 8). Nach dem Ersten Weltkrieg boten zunehmend auch Vertreiber von erschwinglicheren Produkten wie Zigaretten oder Margarine Sammelbildchen an, sodass sich Umlauf und Nachfrage nochmals drastisch erhöhten. (Anm. 9) Liebig setzte sich durch das bis 1940 konstant beibehaltene aufwändige Herstellungsverfahren der Chromolithographie hinsichtlich der Qualität von Konkurrenten ab. (Anm. 10)
Kunsthistorische Motive treten von Beginn an regelmäßig unter den Serien auf. (Anm. 11) Anders als weitere illustrierte Viten wie die beiden Fassungen der Brüder Riepenhausen (Inv-Nr. kb-1863-85-304-1 bis -12 und 2019-652-2 bis -12) beschränken sich die vorliegenden Liebigbildchen ausschließlich auf die künstlerische Biografie Raffaels und lassen die religiös aufgeladenen Szenen – beispielsweise die Geburt oder seine Visionen der Madonna – außer acht. Wie auf dem vierten Bildchen gezeigt, inspiriert den Künstler vielmehr das überaus irdische Umfeld eines Weinguts, wo er eine stillende Mutter in Ermangelung von Leinwand oder Papier auf einem Weinfass zur Madonna della Sedia transformiert. (Anm12) Auch die Modelle und Skizzen auf den übrigen Kärtchen lassen sich mit existierenden, von Raffael (und Werkstatt) ausgeführten Projekten wie der Stanza della Segnatura in Verbindung bringen. Ikonographisch greift die Serie darüber hinaus Bildmotive zum Leben des Urbinaten besonders des 19. Jahrhunderts, wie beispielsweise von Johann Michael Wittmer, Pierre-Nolasque Bergeret oder Nicolas-André Monsiau (Inv-Nr. 2019-1 und 2020-15) auf. Anstelle der seit 1800 zunehmend betriebenen religiösen Überhöhung Raffaels scheinen die Sammelbildchen vielmehr einen kunstwissenschaftlichen Ansatz zu verfolgen, der geschickt mit Anekdoten verwoben wurde: Während Kindern und Laien eine vermeintlich auf Tatsachen gestützte, dabei jedoch unterhaltsame Biographie präsentiert wurde, kamen auch Kunstkenner durch Wiedererkennungsmomente auf ihre Kosten. Wie sich zeigt, galt Raffael auch im frühen 20. Jahrhundert nach wie vor als einer der wichtigsten und populärsten Künstler der Kunstgeschichte und durfte auch in einem die „Welt in ihrer Vielfalt“ (Anm. 13) enzyklopädisch abbildenden Sammelbildalbum nicht fehlen.
Klara Wagner

Jussens 2002, Nr. 655; Brandt/Hefele/Lehner/Pfisterer 2021, S. 501, Nr. 170
(Beitrag Annalena Brandt).

1 Köck/Weyers 1992, S. 8–26, hier S. 9. Vgl. Blume 2019.
2 Mielke 1982, S. 45.
3 Köck/Weyers 1992, S. 10.
4 So beispielsweise die Firma Stollwerck ab 1860; vgl. Köck/ Weyers 1992, S. 11.
5 Köck/Weyers 1992, S. 12–13.
6 Köck/Weyers 1992, S. 18. A F. Engelhardt aus Mühlhausen berichtet 1897 in dem von ihm herausgegebenen Lieder- und Handbuch für Ansichtskarten- und Liebigbildsammler davon, wie seine Leidenschaft im Bekanntenkreis um sich greift; vgl. Köck/Weyers 1992, S. 8.
7 Mielke 1982, S. 45.
8 Leichte Abweichungen im Millimeterbereich konnten sich durch das Zuschneiden ergeben, (105–)112 x 70 mm bzw. 88 x 48 mm bei Stollwercks Automatenbildchen; vgl. Mielke 1982, S. 103.
9 Köck/Weyers 1992, S. 12–13. Der Demokratisierungsschub erleichterte auch das Einsetzen von Sammelbildchen für Propagandazwecke, beispielsweise in der Zeit des Nationalsozialismus; vgl. dazu Köck/Weyers 1992, S. 13.
10 Das Herstellungsverfahren in mehreren Stufen wird durch eine eigene Serie aus dem Jahr 1906 für die Käuferschaft nachvollziehbar gemacht. Liebig beschäftigte eigene Zeichner, Lithographen und Drucker, um die hohen Auflagen bewältigen zu können. Insgesamt kamen beim Druckvorgang bis zu 12 Farben abzüglich Silber oder Gold zum Einsatz. Zu Beginn wurde überwiegend in Frankreich gedruckt, ab 1889 bis zum Ersten Weltkrieg vor allem auf deutschem Boden. Was zunächst als innovative Technik begann, erwies sich zum späteren Zeitpunkt als überholt bzw. unverhältnismäßig aufwändiges Verfahren – jedoch wurde mit keiner Alternative eine vergleichbare Qualität erreicht, ein Umstand, der die Liebig-Bilder auszeichnet; vgl. Dröge 1992, S. 145–147.
11 So beispielsweise 1897 Berühmte Bildhauer, 1898 und 1902 Architekturstile oder 1904 Aus dem Leben berühmter Maler; vgl. Mielke 1982, S. 62–69. Die drei gängigen Verzeichnisse sind Sanguinetti (erscheint als Katalogverzeichnis fortlaufend seit 1911), Arnhold 1948 und Dreser 1894; vgl. Mielke 1982, S. 47–48. Zu den kunsthistorischen Serien mit insgesamt 60 Künstlerbildnissen siehe auch Brandt/Hefele/Lehner/Pfisterer 2021, S. 500–502 (Beitrag Annalena Brandt).
12 Zur Legende der Entstehung der Madonna della Sedia siehe Inv-Nr. kb-2020-455g-2.
13 Köck/Weyers 1992, S. 10.

Details zu diesem Werk

Chromolithographie 65mm x 100mm (Bild) 70mm x 105mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Geschenk 2020 von Andreas Stolzenburg, Hamburg Inv. Nr.: 2020-4-6 Sammlung: KK Druckgraphik, 20.-21. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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