Anne Claude Philippe Caylus, Radierer
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Zeichner, Erfinder
Imprimerie Royale, Drucker

Studie für eine Schlachtenszene, 1729

Aus: "RECUEIL D'ESTAMPES D'APRES LES PLUS BEAUX TABLEAUX [...]", Paris 1729, Tafel 46

In den ersten Jahrhunderten seit Raffaels Tod fanden seine Gemälde sowie die Wand- und Deckenmalereien durch Hunderte von Druckgraphiken weite Verbreitung. Ganz anders sah dies bei den Zeichnungen aus, obgleich diese hinsichtlich Anzahl und Qualität einen wesentlichen Teil seines Œuvres ausmachen. Zwar hatte Marcantonio Raimondi zahlreiche Kupferstiche nach originalen Entwürfen Raffaels ausgeführt, doch ging es ihm bei seinen Reproduktionen vornehmlich um die Wiedergabe der Komposition. (Anm. 1) Im Zentrum der Vermittlung stand bei ihm stets die Erfindung, wohingegen an eine detailgetreue Wiedergabe der Zeichnung an sich niemals gedacht war. Diese Beobachtung lässt sich auch für andere Künstler wie Ugo da Carpi, Agostino Veneziano oder Marco Dente machen, die ebenfalls nach Zeichnungen Raffaels arbeiteten.
Ein verstärktes Interesse an der exakten druckgraphischen Wiedergabe von Raffael-Zeichnungen entwickelte sich langsam und fand eigentlich erst im 18. Jahrhundert eine starke Ausprägung. (Anm. 2) Damals bewegte sich die technische Entwicklung hin zum druckgraphischen Faksimile einer Handzeichnung auf einem erstaunlich hohen Niveau. Nun gab es einen zunehmend breiten Markt von Sammlern und Kennern, die an derartigen Drucken Interesse hatten.
Beispielhaft für die qualitätvolle Reproduktion einer Raffael-Zeichnung sei eine Studie für eine Schlachtenszene vorgestellt. Die Darstellung zeigt eine Gruppe von nackten Männern im heftigen Kampf. Die zerstörerische Energie des erbitterten Ringens findet ihre Entsprechung in einer lebendigen Federführung. Es ist spürbar, wie Raffael um die Formfindung gerungen hat.
Das Blatt entstammt dem 1729 erschienenen ersten Band des sog. Recueil Crozat, einem der Hauptwerke in der faszinierenden Geschichte der Reproduktion von Handzeichnungen. (Anm. 3) Bei der nach dem bedeutenden Kunstagenten und Sammler Pierre Crozat benannten Edition handelt es sich nicht nur um das früheste Beispiel für eine illustrierte Geschichte der Kunst, sondern auch um das wohl erste „Kunstbuch“, in dem Text und Illustration eng kombiniert wurden. (Anm. 4) Die Editionsgeschichte ist kompliziert und von manchen Rückschlägen geprägt. Am Ende erschienen bis 1742 nur zwei Bände, die sich italienischen Schulen widmeten. Im ersten Band mit der Römischen Schule nimmt Raffael eindeutig die wichtigste Position ein. Insgesamt wurden 137 Reproduktionsgraphiken publiziert, von denen 93 Gemälde, aber immerhin 44 Zeichnungen wiedergeben. Dies belegt nachdrücklich, welchen Stellenwert diese Gattung damals besaß. (Anm. 5) Erkennbar ist der Wille, die Zeichnungen genau abzubilden. Für die Liniensysteme setzte man die Radierung ein, wohingegen bei farbigen oder flächigen Vorlagen der Holzschnitt gewählt wurde. (Anm. 6)
Die vorliegende, damals im Besitz von Crozat befindliche Zeichnung erschien 1729 im ersten Teil des Recueils. (Anm. 7) Früher wurde die Zeichnung – so bereits in der Bildunterschrift – als Studie für die Seeschlacht bei Ostia in der Stanza dell’Incendio (Inv.-Nr. 50025) angesehen und eine Entstehung um 1514/15 angenommen. Heute geht man davon aus, dass Raffael die lebendige Kampfszene noch während seiner Florentiner Zeit um 1506/07 ausführte. (Anm. 8) Unverkennbar ist der Einfluss von Leonardos und Michelangelos Schlachtenkartons, die Raffael sicher gesehen hat.
Comte de Caylus legte großen Wert auf die Wiedergabe des lebendigen Duktus der Federstriche. Dennoch ist die seitenverkehrte Reproduktion keineswegs detailgetreu, da Caylus die gesamte Komposition gleichsam übersichtlicher anlegte, indem er diverse Pentimenti und Probezüge wegließ. Die Reproduktion erweckt daher mit ihrer glanzvollen technischen Ausführung den Schein von Authentizität, ohne ihn – nach heutigen Maßstäben an ein Faksimile – vollends einzulösen. Derartige Beobachtungen zeigen auch andere Reproduktionen nach Raffael im Recueil. (Anm. 9)
Dieser Einwand schmälert indessen nicht den überragenden Verdienst des Recueil Crozat, der für zahlreiche folgende Publikationen von Zeichnungen – und dabei auch denjenigen Raffaels – sicher richtungsweisend gewesen ist.
David Klemm

1 Schwaighofer 2009, S. 72.
2 Eine genaue Analyse dieser Fragestellung fehlt.
3 „RECUEIL D’ESTAMPES D’APRES LES PLUS BEAUX TABLEAUX ET D’APRES LES PLUS BEAUX DESSEINS QUI SONT EN FRANCE Dans le Cabinet du Roy, dans celuy de Monseigneur le Duc d’Orleans, & dans d’autres Cabinets. Divisé suivant les differentes Écoles; avec Un abbregé de la Vie des Peintres, & une Description Historique de chaque Tableau [...]; zum Recueil vgl. Krause/Niehr/Hanebutt-Benz 2005, S. 302–306 (Beitrag Katharina Krause); Wiebel 2007, S. 90–95; Schwaighofer 2009, S. 85–96, S. 152–152, Nr. 3 (mit weiterer Lit.); Singh 2016.
4 Schwaighofer 2009, S. 153.
5 Ebd.
6 Vgl. hierzu Gramaccini/Meier 2003, S. 154–156.
7 Das Blatt befindet sich heute im Ashmolean Museum, Oxford; Feder in Braun über schwarzer Kreide; 272 x 419 mm; Inv.-Nr. WA 1846.179; P II 538; Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 234, S. 577, Nr. 234; Ausst.-Kat. Ox ford 2017, S. 111–113, Nr. 29.
8 Ausst.-Kat. Oxford 2017, S. 111–113, Nr. 29.
9 Vgl. z. B. Tafel 43 mit einer Studie zur Disputa, Städel Museum, Graphische Sammlung, Frankfurt am Main, Inv.-Nr. 379; Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 289, S. 582, Nr. 289; vgl. Höper 2001, S. 372, Nr. F 1.2. Auch dort werden einzelne Details fortgelassen, vereinfacht oder sogar wie bei den Treppenstufen – zur besseren Lesbarkeit des Entwurfs – hinzugefügt. Kat. 133 B: Oben in der Mitte in der Platte nummeriert: „XXX.“; unten rechts

Details zu diesem Werk

Radierung 261mm x 421mm (Bild) 283mm x 440mm (Platte) 631mm x 466mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Erworben 2020 bei Peter Kiefer Buch- und Kunstauktionen, Pforzheim, mit Mitteln des Fördervereins "Die Meisterzeichnung. Freunde des Hamburger Kupferstichkabinetts e.V." Inv. Nr.: 2020-30-2 Sammlung: KK Druckgraphik, Frankreich, 15.-18. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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