Francesco Aquila, Radierer, Zeichner
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder
nach Raffael (Werkstatt), Maler
Domenico de' Rossi, Verleger

Die Kardinal- und Gottestugenden und das Gesetz, 1722

Aus: "PICTVRӔ RAPHAELIS SANCTIJ VRBINATIS [...]", hg. v. Domenico de' Rossi, Rom 1722, Tafel 12

Die dreiteilige, dem Recht gewidmete Komposition an der Südwand der Stanza della Segnatura fand unter den Fresken dieses Raumes die geringste Aufmerksamkeit. Dabei wurden die im oberen Lünettenfeld
dargestellten drei Kardinaltugenden wohl aufgrund der eleganten und harmonischen Ausführung immerhin gelegentlich wiedergegeben (Inv.-Nr. 1352k) (Anm. 1) Demgegenüber blieben die beiden unterhalb davon zu Seiten eines Fensters befindlichen Szenen weitgehend unbeachtet. Die große Ausnahme bilden Gesamtdarstellungen, weshalb Francesco Aquilas Wiedergabe aus dessen 1722 veröffentlichter Folge PICTVR RAPHAELIS SANCTIJ VRBINATIS [...] hoher Wert zukommt. Erst mit dieser Graphik konnten sich Betrachter fernab von Rom überhaupt ein Bild von der Konzeption der Südwand machen (zur Folge vgl. Inv.- Nr. 2020-28-10).

Die relativ genaue Radierung zeigt Raffaels raffinierte, durch das vorhandene Fenster bedingte Komposition, in deren unteren Bereich zwei herausragende Ereignisse der Rechtshistorie präsentiert werden. Links erhält Kaiser Justinian die Pandekten, eine für die europäische Geschichte folgenreiche spätantike Zusammenstellung des römischen Rechts. (Anm. 2) Auf der anderen Seite des Fensters übergibt der Dominikaner Raimund von Peñaforte die von ihm zusammengestellten Dekretalen an seinen Auftraggeber Papst Gregor IX. Bei diesem Werk handelt es sich um eine wichtige Sammlung von Quellen zum kanonischen Kirchenrecht. Gregor IX. segnet das Buch in hoheitlichem Ornat und mit der Tiara auf dem Haupt. Raffael hat dem Papst die Gesichtszüge von Julius II. verliehen, womit erstmals in den Stanzen der aktuell amtierende Papst bildlich dargestellt wurde. Damit sind auch die getrennten Realitätsebenen von Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben.

Bei aller göttlichen Unterstützung bleibt die irdische Rechtsprechung doch Gefahren einer falschen Anwendung ausgesetzt. Es war daher eine kluge gestalterische Idee, den Besucherinnen und Besuchern der Räume eine höher stehende Instanz vor Augen zu führen. Diese Funktion übernehmen die weiblichen Personifikationen im oberen Halbrund. Links befindet sich die mit einer Rüstung bekleidete Stärke mit einem Löwen und Eichenlaub, womit auf den kraftvollen Auftraggeber Julius II. aus dem Hause della Rovere angespielt wird (Rovere: ital. für Eiche). In der Mitte blickt die Weisheit in einen Spiegel der Selbsterkenntnis. Sie vermag aufgrund ihrer Doppelgesichtigkeit in Vergangenheit und Zukunft zu schauen. Rechts hält die Mäßigung Zügel und Zaumzeug. Die sich zwischen den Kardinaltugenden tummelnden Putti erinnern an die christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung. Normalerweise werden die vier Tugenden gemeinsam dargestellt, doch erscheint die fehlende Justitia in der Stanza della Segnatura im Gewölbe (Inv.-Nr. 17210d). Dort befindet sich in direkter Nachbarschaft auch das Urteil Salomos (Inv.-Nr. 50018), womit ein weiterer Bezug zum Thema Gerechtigkeit hergestellt wird. Francesco Aquilas Reproduktion weist bei allen Verdiensten auch eine Reihe von markanten Detailveränderungen auf: So setzt beispielsweise die Temperantia (Mäßigung) bei Aquila nur einen Fuß auf den Boden. Und das bei der Stärke befindliche Eichenlaub fällt auf dem Fresko deutlich üppiger aus. Darüber hinaus zeigt die Radierung die für Aquila typischen Charakteristika, etwa die spannungsarme Lichtführung, Abänderungen der Gesichtsausdrücke und Frisuren (vgl. Inv.-Nr. 2020-28-10). (Anm. 3) Aquilas Vorgabe wurde offenbar nur ein einziges Mal nachgeahmt, wobei Karl Friedrich Seiferts Version von 1874 durch extreme Genauigkeit besticht. (Anm. 4)
David Klemm

LIT (Auswahl): Kolloff 1872, S. 205, Nr. 44; Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti

1 Vgl. Höper 2001, S. 386.
2 Justinian ließ zwischen 529 und 534 unter der Leitung des Juristen Tribonianus diverse Schriften über das römische Recht auswerten und systematisieren. Es erschienen mehrere Sammlungen, wie die Pandekten, die im römischen Reich verbindlich, aber auch seit dem 12. Jahrhundert in ganz Europa an Gewicht gewannen. Während Vasari annahm, Justinian würde die Pandekten übergeben, ist man heute überwiegend der Ansicht, dass der Kaiser die erarbeiteten Rechtsgrundlagen erhält. Vgl. Ausst.-Kat. Frankfurt am Main 2012, S. 153.
3 Aquila ändert auch die architektonische Rahmung, indem er die zweite Bogenlaibung weglässt. Dadurch suggeriert er eine andere räumliche Umgebung. Allerdings muss eingeräumt werden, dass eine völlig exakte Wiedergabe die Lesbarkeit
des Blattes sicher eingeschränkt hätte.
4 Im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle befindet sich ein Remarquedruck; vgl. Inv.-Nr. 27017. Zu dem mit Widmung versehenen, vollendeten Druck vgl. Höper 2001, S. 386, Nr. F 4.4.

Details zu diesem Werk

Radierung 521mm x 676mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Erworben 2020 vom Auktionshaus Galerie Gerda Bassenge, Berlin, mit Mitteln des Fördervereins "Die Meisterzeichnung. Freunde des Hamburger Kupferstichkabinetts e.V." Inv. Nr.: 2020-28-11 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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