Marcantonio Raimondi, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder

Die Heilige Cäcilie, um 1515/16

Die Heilige Cäcilie entstand vor 1518 im Auftrag der später selig gesprochenen Elena Duglioli dall’Olio für deren Familienkapelle in S. Giovanni in Monte in Bologna. (Anm. 1) Raffael zeigt die Heilige während sie den Klängen eines himmlischen Engelschores lauscht und dabei das Spiel auf ihrer Handorgel unterbrochen hat. Um sie herum stehen Paulus, der Kirchenpatron Johannes der Evangelist, der Hl. Augustinus und Maria Magdalena. Sie alle scheinen die himmlische Musik nicht zu hören. Paulus betrachtet nachdenklich die am Boden liegenden, teilweise beschädigten Instrumente. Sie sind nicht spielbar, wie auch die Orgel, deren Pfeifen sich schon gelöst haben. (Anm. 2) All dies ist wohl als Symbol dafür zu verstehen, dass die irdische Musik ihre Grenzen hat und vor der göttlichen keinen Bestand haben kann. (Anm. 3)
Raffael gelingt es auf beeindruckende Weise, diese unterschiedlichen Sphären in eine spannungsvolle Komposition zu bannen. Seine Darstellung der in Ekstase befindlichen Heiligen Cäcilie avancierte zu einem seiner Hauptwerke und darüber hinaus zu einer der anschaulichsten Darstellungen von der Wirkungskraft der Musik überhaupt. Das heute in der Pinacoteca Nazionale in Bologna bewahrte Gemälde wurde im Laufe der Jahrhunderte vielfach reproduziert (Inv.-Nr. 50011). (Anm. 4) Die erste druckgraphische Wiedergabe stammt von Marcantonio Raimondi, der allerdings nicht auf das Gemälde, sondern auf eine weit ausgeführte Vorstudie zurückgriff. Nach einhelliger Meinung der Forschung handelte es sich dabei um eine heute im Petit Palais in Paris bewahrte Zeichnung. (Anm. 5) 1998 tauchte im Kunsthandel eine weitere Studie auf, die derjenigen in Paris stark ähnelt und als Kopie nach dieser eingestuft wurde. (Anm. 6) Allerdings ist bemerkenswert, dass einige Details dieser Zeichnung mit dem Kupferstich genauer übereinstimmen als die entsprechenden Elemente auf der Zeichnung aus dem Petit Palais. (Anm. 7) Aufgrund dieser neuen Sachlage erscheint die Verknüpfungskette zwischen Kupferstich und Pariser Zeichnung weniger eindeutig als lange angenommen. (Anm. 8)
Unabhängig davon ist unzweifelhaft, dass beide Zeichnungen Entwurfsideen Raffaels spiegeln. Unterschiedlich zum Gemälde sind vor allem die Blicke der Heiligen, die noch intakten irdischen Musikinstrumente und dass die Engel Instrumente spielen. (Anm. 9) Die auf dem Gemälde erkennbaren weitreichenden Veränderungen dürften auf die Auftraggeberin oder ihre Berater zurückzuführen sein.
Vor diesem Hintergrund ist es von Interesse, dass Raffael einen frühen Entwurf für eine druckgraphische Verbreitung freigab. Offenbar war er von seiner ursprünglichen Lösung vollauf überzeugt. Dies überrascht insofern, als die Zeichnungen gegenüber dem Gemälde weniger psychologische Spannung, deutlich weniger räumliche Tiefe und eine geringere Präsenz der Figuren aufweisen.
Marcantonio Raimondi übertrug die Vorlage seitengleich mit großer Genauigkeit. Die Linien sind zum Teil sehr fein, dann aber auch wieder entschieden und kraftvoll ausgeführt. Raimondi wählte ein sehr klares Strichbild mit teilweise streng senkrechten Liniengefügen. Eine große Stärke des Kupferstichs ist die Verteilung der Hell und Dunkelwerte. (Anm. 10) Raimondi erzeugt stärkere Kontraste als auf den Zeichnungen, was zu mehr Plastizität und Spannung führt. (Anm. 11) Die Reproduktion markiert einen wichtigen Schritt hin zu seinem reifen Stil der römischen Zeit und dürfte daher um 1515/16 entstanden sein. Wie bei kaum einem anderen seiner Kupferstiche bedeckt Raimondi die gesamte Oberfläche des Papiers mit differenzierten, tonal reich abgestuften Liniensystemen. Dies führt keineswegs zu einer Überladung, sondern zu einer faszinierenden Gesamtwirkung, bei der die Figuren und ihre Umgebung gleichsam zu verschmelzen scheinen. In frühen Abdrücken des Kupferstichs wirken einige Bereiche der Darstellung geradezu samtig weich. (Anm. 12) Völlig zurecht hob bereits Giorgio Vasari in seinen Viten diesen Kupferstich als „bellissima carta“ hervor. (Anm. 13)
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 101, Nr. 116; Bernini
Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 217, Nr. V.1; Höper 2001, S.
261–262, Nr. C 14.1 (mit älterer Lit.); Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 53, Nr. 4

1 Zur Datierung siehe. Ausst.-Kat. Rom 2020a, S. 251, Nr. V.2; zur Auftraggeberin siehe Vasari/Gründler 2004, S. 138.
2 Aus kompositionellen Gründen erscheint auf dem Bild die Orgel seitenverkehrt. Normalerweise steht die längste Pfeife links.
3 Buck/Hohenstatt 2013, S. 83.
4 Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 217-219; Höper 2001, S. 261-264.
5 Paris, Musée du Petit Palais, Dutuit 980. Diese Zeichnung galt lange Zeit als Kopie Giovan Francesco Pennis nach einer verlorenen Zeichnung Raffaels, doch wurde jüngst dieser selbst wieder verstärkt als Urheber in die Diskussion gebracht; vgl. Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 298-299, Nr. 96 (Beitrag Achim Gnann); Ausst.-Kat. Rom 2020a, S. 251, Nr. V.3; vgl. Bloemacher 2016, S. 104-109.
6 Bloemacher 2016, S. 109.
7 So trägt z. B. der Hl. Augustinus sowohl auf der Zeichnung aus dem Kunsthandel als auch auf dem Stich einen Vollbart, wohingegen dieser auf der Pariser Vorzeichnung fehlt; vgl. Bloemacher 2016, S. 109.
8 Die Zeichnung wurde verkauft, ihr heutiger Aufbewahrungsort ist nicht bekannt.
9 Dieses Detail ist allerdings nur auf der Pariser Zeichnung erkennbar. Ob sich dieser obere Teil auch auf dem Blatt aus dem Kunsthandel befand, wäre am momentan nicht zugänglichen Original zu klären.
10 Shoemaker 1981, S. 112.
11 Höper 2001, S. 84.
12 Shoemaker 1981, S. 114.
13 Vasari/Bettarini/Barocchi, 5 (1984), S. 198.

Details zu diesem Werk

Kupferstich 260mm x 158mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 202 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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