Johannes Riepenhausen, Radierer, Erfinder

Raffael empfiehlt Papst Leo X. die Bewahrung der römischen Altertümer / "RACCOMANDA AL PAPA LEONE X. LA CONSERVAZIONE DELLE ANTICHITA' ROMANA.", 1833

Aus: "VITA DI RAFFAELLE DA URBINO [...]", Rom 1833, Tafel 11

Nach dem Tod seines Bruders Franz 1831 griff der jüngere Johannes Riepenhausen die Idee einer illustrierten Vita Raffaels erneut auf. Rund 17 Jahre nach Erscheinen des ersten Zyklus‘ (Inv-Nr. kb-1863-85-304-1 bis-12) veröffentlichte er in Rom eine zwölfteilige Folge von Radierungen, welche er selbstätzte. Hierin unterscheidet sich der zweite Zyklus bereits vom ersten, für welchen die Brüder Riepenhausen lediglich die Vorzeichnungen für die Druckgraphiken anfertigten. Auch wurden die einzelnen Tafeln nummeriert sowie mit Bildunterschriften in italienischer Sprache versehen, worauf bei der ersten Vita verzichtet wurde. Ein Nachdruck der Gebrüder Rocca erschien 1835 in Deutschland (wohl in Berlin), jedoch wurden dafür die radierten Originalplatten in gleicher Größe abgekupfert. In Italien erfuhr der zweite Zyklus 1841 eine Neuauflage. (Anm. 1) Vorliegend ist die italienische Erstauflage von 1833. (Anm. 2)
Das Erscheinungsdatum im Jahr der Öffnung von Raffaels Grab in Rom (Anm. 3) mag nicht bewusst gewählt worden sein, zeugt jedoch vom ungebrochenen Anhalten der kultartigen Raffaelverehrung, welche im 19. Jahrhundert besonders im Kreis deutsch-romantischer Künstler Aufleben und Verdichtung erfuhr. (Anm. 4) Über eine spirituell-verklären- de Idealisierung Raffaels hinausgehend verschob sich der Interessensfokus jedoch zunehmend auf das Verstehen des Urbinaten als irdischen Menschen und auf die Spurensuche nach existenten Zeugnissen seines Lebens und deren Erfassung auf der Basis junger Disziplinen wie der Physiognomik, Archäologie oder der Anthropologie. So führten Zweifel an der Echtheit des in der Accademia di San Luca aufbewahrten vermeintlichen Raffael-Schädels zur (erneuten) Öffnung des Grabes im Pantheon. Im Gegensatz zum anekdotenhaft überlieferten und mythologisierten angeblichen Vorfinden des unversehrten Leichnams wohl um 1700 wurden die Fundergebnisse des zweiten Anlaufs in einzelnen Schritten dokumentiert (vgl. Inv-Nr. 2020-13 und 2020-11) (Anm. 5) Das Interesse an der Physiognomie Raffaels, durch welche nach zeitgenössischer Auffassung Charakter und Persönlichkeit nach außen sichtbar gemacht wurden, drückt sich auch in der Portraitpraxis der Zeit aus. So verliehen sich beispielsweise Johann David Passavant oder Johann Evangelist Scheffer von Leonardshoff durch Gewandung oder Pose sowie Gesichtszüge Parallelen zu Raffael im Abgleich mit damals bekannten Bildnissen des verehrten Künstlers: Die erfühlte Seelenverwandtschaft mit dem Urbinaten ließ diesen Akt durch die im Portrait sichtbar gemachte‚ wahre Persönlichkeit legitim erscheinen. (Anm. 6) Die zwischen 1839 und 1858 erschienene dreibändige Biografie Rafael von Urbino aus der Feder Passavants ist ein weiteres Beispiel für eine zwar weiterhin verehrende, jedoch auf kritischem Quellenstudium basierende Auseinandersetzung mit dem Renaissancekünstler. (Anm.7)
Parallelen zu dieser realitätsnäheren Historisierung finden sich auch im vorliegenden zweiten Zyklus zum Leben Raffaels im Vergleich mit der ersten Fassung der Brüder Riepenhausen. (Anm. 8) Statt einer komplexen Allegorie (Inv-Nr. kb-1863-85-304-1) ziert das Titelbild ein Bildnis Raffaels, welchem in der ersten Ausgabe noch eine eigene Tafel gewidmet war (Inv-Nr. 2019-652-1). Die von Engeln und allegorischen Figuren begleitete Geburtsszene wird nun durch das Stillen des kleinen Raffael durch seine Mutter ersetzt, während die folgenden Tafeln mit Szenen aus der künstlerischen Biografie des Urbinaten – erster Unterricht beim Vater, Abschied und Beginn der Lehre bei Perugino – deckungsgleich ausfallen. Auf die beiden Tafeln, welche Raffaels Wanderschaft zeigen (Inv-Nr. kb-1863-85-304-6 und 7) wird verzichtet; stattdessen wird die Auseinandersetzung mit dem Werk Michelangelos vorgezogen und eine Tafel mit der künstlerischen Weiterbildung bei Fra Bartolommeo eingefügt. Zu den erneut in beiden Werken auftretenden Abbildungen Raffaels vor Julius II. und seiner Vision der Sixtinischen Madonna sowie der gleichbleibenden Abschiedsszene an Raffaels Sterbebett kommen im Zyklus Johannes Riepenhausens drei weitere Tafeln hinzu: Der Besuch Leo X. in Raffaels Werkstatt, das Malen der Fornarina und Raffael als Bewahrer antiker Altertümer in Rom. Über dem Nachfolgen der von Vasari beschriebenen Stationen aus seinem Leben hinausgehend (Anm. 9) scheint besonders auch der Versuch des Einbeziehens künstlerischer Zeugnisse Raffaels sowie deren späterer und zeitgenössischer Verarbeitung – und damit eine im weitesten Sinne kunsthistorische Auseinandersetzung – das Ziel Johannes Riepenhausens gewesen zu sein. Das genaue Orientieren an Werken Raffaels (und Werkstatt) erscheint typisch für Arbeiten der Brüder Riepenhausen, die sich ab 1805 intensiv in Form von Studien mit Malern der italienischen Renaissance und ins besondere des Urbinaten auseinandersetzten (Anm. 10) und ab 1810 am Projekt einer illustrierten Geschichte der Mahlerei in Italien arbeiteten. Das Bild auf der Staffelei Fra Bartolommeos ist eine seitenverkehrte Darstellung seines sich heute in der Galleria Palatina in Florenz befindenden Gemäldes des Hl. Markus, während sowohl Julius II. als auch Leo X. samt Kardinälen auf den entsprechenden Tafeln als die um 180 Grad gedrehten, durch Riepenhausen zum Leben erweckten eigenhändigen Porträts Raffaels erscheinen. Im Falle Leos X. befindet sich das genannte Bildnis zudem auf einer Staffelei im Hintergrund, wo zwei Betrachtende die Ähnlichkeit mit dem lebenden Vorbild zu bezeugen scheinen. Auch die Figuren der Sixtinischen Madonna sind auf der Tafel der Vision Raffaels dem Vorbild entsprechend genau wiedergegeben, ebenso wie das Bildnis der Fornarina auf der Staffelei des Malers. Letzteres Motiv zitiert außerdem den von Ingres geschaffenen Typus der Darstellung Raffaels mit seiner Muse und Geliebten. (Anm. 11) Auch die Darstellung von Raffaels Tod stützt sich auf einen zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Nicolas-André Monsiau (Inv-Nr. 2020-17 und 2019-1) und Pierre-Nolasque Bergeret geprägten Topos, der hier teils zitiert, jedoch variiert wird. (Anm. 12)
Besonders deutlich fällt stilistisch im Vergleich zum ersten Zyklus die wesentlich stärkere Linearität mit reiner Betonung der Umrisse auf. Zuvor operierten die Brüder wesentlich stärker mit durch raumschaffende Mittel ausdifferenzierten Bildgründen und setzten auf stärkere Hell-Dunkel-Kontraste sowie auf die Ausarbeitung von Volumina mittels kupferstich-typischer Schraffuren: So entstand ein beinahe altmeisterlicher Eindruck. (Anm. 13) Die vorliegende, zweite Fassung erscheint in ihrer Wirkung klassizistischer. Hier – ebenso wie in der Beigabe von Bildunterschriften – zeigt sich eine stilistische Verwandtschaft zu den von John Flaxman gezeichneten, von Tommaso Piroli und William Blake radierten Umrissen zur Illias und zur Odyssee, welche europaweit verbreitet waren und stilgebend für zahlreiche Künstler wurden. (Anm. 14) Ein wichtiges Vorbild dürfte auch Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Homer nach Antiken gezeichnet darstellen. An diesem Werk ihres Lehrers orientierten die Brüder sich auch in ihrer 1805 erschienenen Publikation Gemählde des Polygnotos in der Lesche zu Delphi, deren Bildband ebenfalls als Folge von Umrissradierungen erschien. (Anm. 15) Um 1800 ist sowohl im Kreis klassizistischer als auch romantischer Künstler eine Hinwendung zur (Umriss-) Zeichnung zu beobachten. Sie ermöglichte das lineare Umreißen der Essenz des Dargestellten (Anm. 16), galt zugleich als aus dem Geist heraus aufs Papier gebannte künstlerische Idee und wurde so zur eigenständigen künstlerischen Gattung von zunehmender Relevanz aufgewertet. (Anm. 17) Die Umrissradierungen des vorliegenden Zyklus fügen sich etwas verspätet in diesen zeitgenössischen Diskurs ein. Zugleich erscheint die Wahl einer rein auf die Zeichnung und Komposition fokussierten Darstellungsweise ausgerechnet für die Vita Raffaels, der in der kunsttheoretischen Tradition (u.a. nach Roger de Piles) als Meister ebenjener Kategorien galt, (Anm.18) auch in historischer Perspektive für sich sprechend.
Beim Betrachten der Tafeln fällt eine Wiederholung von Kompositionen auf, welche sich ganz oder in ähnlicher Form in Zeichnungen und Gemälden der Brüder finden lassen – so beispielsweise im Falle der Vision Raffaels oder dem die Fornarina malenden Künstler. Während erstere Darstellung in einem Aquarell sowie mehreren Fassungen in Öl (unter anderem auf Bestellung Graf Athanasius Raczyńskis) umgesetzt wurde, (Anm. 19) existieren auch vom letzteren mehrere gemalte Versionen. Beide Motive wurden auf der römischen Kunstausstellung im Palazzo Caffarelli gezeigt. (Anm. 20) Einerseits fügt sich Johannes’ Vorgehen in den Kontext des romantischen Freundschaftsideals ein, der seinen Bruder über den Tod hinaus in seinem Zyklus präsent bleiben lässt und verewigt: Zu Lebzeiten hatten die Brüder ihre Werke gemeinschaftlich ausgeführt und signiert. (Anm. 21) Andererseits zeugt es auch von einem vorhandenen Bewusstsein dafür, dass die Riepenhausen hinsichtlich der bildlichen Darstellung von Szenen aus Raffaels Leben bereits als Klassiker galten, denn mit der ersten Fassung der Vita hatten sie zugleich das bis heute früheste bekannte Werk dieser Art vorgelegt. (Anm. 22) Als deren Erweiterung und in ihrem Verweben von Mythen mit real existierenden Zeugnissen, von Tradition mit eigenem Œuvre und Elementen des Zeitgeistes, ist der vorliegende Zyklus nach wie vor eine Arbeit von hoher kunsthistorischer Relevanz.
Klara Wagner

LIT: Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 138–145, Nr. 9 (Beitrag Steven Reiss);
Ausst.-Kat. Rom 2020c, S. 61–67, Nr. 10 (Beitrag Arnold Nesselrath)

1 Eine erste, wohl nur sehr kleine Auflage wurde schon 1832 gedruckt; vgl. das wohl von Johannes Riepenhausen handkolorierte Exemplar in der Sammlung Charles Booth-Clibborn, London; Ausst.-Kat. London 2011, S. 74–81, Nr. 16.
2 Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 140, Nr. 9, Anm. 1 (Beitrag Steven Reiss).
3 Kuhn-Forte 2001b, S. 168.
4 Thimann 2015, S. 16–17.
5 Hübner 2015, S. 72–91, besonders S. 75 und 78. Hübner führt als Quelle des anekdotenhaften Berichts den Romans Avvisi Generali o Il Gazzettino von Girolamo Gigli, verfasst 1712–1714 und gedruckt 1765, an.
6 Kanz 1998, S. 233–234.
7 Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 108–111, Nr. 3 (Beitrag Michael Thimann).
8 Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 138 und S. 140 (Beitrag Steven Reiss). Zum Terminus der „Modernisierung“ siehe Kepetzis 2012, S. 27; vgl. zu den unter schiedlichen Ansätzen in Bezug auf die Viten und ihre ‚Versachlichung‘ Kepetzis 2012, S 34–35.
9 Zur Verknüpfung der Bildmotive mit Passagen aus dem Vasari vgl. Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 138 (Beitrag Steven Reiss).
10 Kuhn-Forte 2001b, S. 162.
11 Als vorbildlich nennt Kepetzis beispielsweise Ingres; Kepetzis 2012, S. 27.
12 Kuhn-Forte 2001b, S. 160–161.
13 Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 138, Nr. 9 (Beitrag Steven Reiss).
14 Zum europäischen Ruhm Flaxmans und zur enormen Relevanz seiner Umrissstiche vgl. Symmons 1984, S. 21, 97–98, 104, 194–196. Zur Adaption des Stils durch die Brüder Riepenhausen vgl. Kepetzis 2012, S. 7–8.
15 Dingerdissen 2018, S. 81–82.
16 Hübner/Thimann 2018, S. 10.
17 Henning 2015, S. 41, 43–44.; vgl. Wagner 2019, S. 240.
18 Vgl. de Piles 1708. Der Eintrag zu Raffael auf der vierten von fünf Seiten der unpaginierten Tabelle zur Bewertung der Künstler im Anhang. Raffael erhält 17 Punkte für „Composition“, sowie je 18 Punkte für „Dessin“ und „Expressi on“. In der Gesamtbewertung unter den Künstlern kann damit nur Rubens mit ihm gleichziehen.
19 Ausst.-Kat. Stendal 2001, S. 170–171, Nr. V5c (Beitrag Brigitte Kuhn-Forte).
20 Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 146, Nr. 10 (Beitrag Michael Thimann).
21 Kuhn-Forte 2001a, S. 28.
22 Kuhn-Forte 2001b, S. 158.

Details zu diesem Werk

Radierung 181mm x 250mm (Bild) 273mm x 376mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Erworben 2019 mit Mitteln des Fördervereins "Die Meisterzeichnung. Freunde des Hamburger Kupferstichkabinetts e.V." Inv. Nr.: 2019-652-13 Sammlung: KK Druckgraphik, Deutschland, 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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