Tommaso Minardi
Der Apostel Paulus diktiert im Gefängnis in Rom den Brief an die Philipper, 1814
Der aus Faenza stammende Maler und zeichner Tommaso MInardi erhielt seine Ausbildung in Bologna und kurzzeitig in Mailand bei dem Kupferstecher Giuseppe Longhi, bevor er ab 1810 in Rom im Atelier des klassizistischen Malers Vincenzo Camuccini lernte.Minardi wurde von den deutschen nazarenern um Friedrich Overbeck beeinflusst und gilt als Begründer des ebenfalls religiös motivierten Purismus in Italien, dessen Ausbildung er zwischen 1810 und 1815 vorrangig bestimmte.Ab 1819 lebte er in Perugia, wo er an der Accademia di Belle Arti als Professor für Zeichnung lehrte. 1822 kam er in derselben Funktion durch Verwendung des Bildhauers Antonio Canova an die Accademia di San Luca in Rom, wo er fortan für 30 Jahre lehrte und eine große Schülerschar ausbildete und prägte. Minardi, Overbeck, der Bildhauer Pietro Tenerani und der Kunstschriftsteller Antonio Bianchini veröffentlichten 1843 gemeinsam die kunsttheoretische Grundlage des Purismus unter dem Titel "Del purismo nelle arti".
Die monogrammierte und 1814 Zeichnung Tommaso Minardis mit der Darstellung des Hl. Paulus im Gefängnis in Rom ist ein frühes und prägnantes Beispiel für die Kunst des italienischen Purismus. Petrus, dessen Kopf von einer Gloriole erhellt wird und neben dem am Boden in einem Behältnis Papyrusrollen stehen, diktiert seinen Brief einem vor ihm am Boden sitzenden jungen Schreiber, während neben diesem Epaphroditos steht, ein Bruder und Mitstreiter des Paulus, der von Philippi aus nach Rom geschickt wurde, um den Apostel im Gefängnis zu versorgen. (Anm. 1) Onesimos überbrachte den Brief an die Philipper. Rechts neben Epaphroditos sitzt Timotheos. Ein Pauls bewachender römischer Soldat – er erinnert zweifellos an Kompositionen des französischen Klassizismus in der Art Jacques-Louis Davids – sitzt, wohl vor Erschöpfung eingeschlafen, im Hintergrund der Szene oberhalb einiger Treppenstufen im grellen Licht vor einem Vorhang.
Eine etwas kleinere, mit dem vorliegenden Blatt motivisch zusammengehörige Zeichnung zeigt eine zweite Paulus-Szene. Dargestellt ist hier wie der Hl. Paulus im Gefängnis in Ephesos den Sklaven Onesimus auffordert einen Brief an seinen Herrn Philemon zu überbringen mit der Bitte um Milde für den Entlaufenen, der sich durch Paulus hatte taufen lassen. (Anm. 2) Es existiert eine dritte Zeichnung mit einem Paulus-Thema, der Hl. Paulus sendet seinen Brief an die Korinther (oder die Galater). (Anm. 3) Weitere Arbeiten zur Paulusikonographie sind, außer kleinen Kopfstudien zum Paulus (Anm. 4), von Minardi nicht bekannt.
Es ist sicher kein Zufall das diese Gefängnisszene des Apostels Paulus zeitgleich mit der Gefangenahme Papst Pius VII. durch Napoleon in Rom zusammenfällt. Minardi wurde wahrscheinlich zu dieser Thematik durch die aktuelle und politisch hoch brisante Gefangennahme des Oberhauptes der Kirche zu den Pauls-Kompositionen inspiriert. (Anm. 5) Des Künstlers Parteinahme für den Papst sich auch in der Zeichnung des triumphalen Einzugs Pius VII in Rom 1814, die von Giovanni Battista Romero gestochen und mit einer langen Widmung an Fürst Metternich versehen wurde. (Anm. 6)
Die Komposition und die technische Ausführung lassen Minardis Zeichnung – trotz aller ikonographischen Anklänge an die Kunst der deutschen Nazarener – noch als ein rein klassizistisches Werk erscheinen, das nicht zuletzt durch die Weißhöhungen, die den Anschein eines Basreliefs suggerieren, Verbindungen zum bildhauerischen Werk Antonio Canovas nahelegen. Der Bildhauer schätzte die Paulus-Zeichnungen Minardis so sehr, dass er von der Szene mit der Entsendung des Onesimos 1814 ein Gemälde bestellte, dass sich heute in der Pinacoteca Civica in Faenza befindet. (Anm. 7)
Andreas Stolzenburg
1 Vgl. Phil. 2, 25 und 4, 18.
2 1814, Bleistift mit Weißhöhungen, 312 x 424 mm, Rom, Accademia di San Luca, Inv.-Nr. 275; Disegni di Tommaso Minardi (1787-1871), Ausst.-Kat. Rom, Galleria Nazionale d`Arte Moderna, Rom 1982, Bd. 1, S. 184-185, Nr. 54, Abb. S. 183 (Beitrag Filippo Tuena); Stefania Ventra: Disegni di Tommaso Minardi in Accademia di San Luca. Il legato testamentario e altre acquisizioni, in: Disegnare a Roma tra l`età del Manierismo e il Neolassicismo, hrsg. v. Francesco Grisoglia (= Horti Hesperidum. Studi di storia del collezionismo e della storiografia artistica), Rom 2014, S. 329, Nr. 48, Abb. 7.
3 Paulus sendet den Brief an die Galater; Rom, Accademia di San Luca, Inv.-Nr. 97; Ausst.-Kat. Rom 1982, S. 184 (San Paolo che invia una lettera ai Corinzi). Nach Ventra 2014, S. 310-312, mit Abb. 6, handelt es sich um den Paulusbrief an die Galater.
4 Vgl. Ausst.-Kat. Rom 1982, S. 185-186, Nr. 55.
5 Minardi nahm schon 1813 die Kämpfe gegen Napoleon zum Anlass für mehrere Zeichnungen; Antike Schlacht oder Napoleon I, der die Spanier bedrängt; Antike Schlacht mit allegorische Figuren oder Allegorie der Schlachten Napoleons I. in Spanien; Ausst.-Kat. Rom 1982, S. 165-166, Nr. 39-40.
6 Ausst.-Kat. Rom 1982, S. 186-187, Nr. 56 (Beitrag Anna Ottani Cavina); Ventra 2014, S. 323, Nr. 1.
7 Die Bewunderung Canovas und der Auftrag sind überliefert durch Guglielmo De Sanctis: Tommaso Minardi e il suo tempo, Rom 1900, S. 42.Ventra 2014, S. 312, Abb. 8.
Andreas Stolzenburg