Franz Nölken

Zwei nebeneinander stehende kleine Mädchen (Studie), 1907

Franz Nölken war zweifellos der begabteste der vielen Künstler des frühen 20. Jahrhunderts in Hamburg. (Anm.1) Er nahm gemeinsam mit dem befreundeten Friedrich Ahlers-Hestermann ab 1900 Malunterricht bei Arthur Sibelist, der den Schüler auf seinem Gruppenbildnis Hamburger Künstler von 1902 porträtierte. (Anm.2) Ab 1904 war Nölken Mitglied des „Hamburgischen Künstlerclubs von 1897“, 1905 lernte er den Hamburger Kunstmäzen und -sammler Ernst Rump (1872-1921) kennen, der ihn mit Ankäufen und Vermittlungen unterstützte und aus dessen umfangreicher Sammlung die beiden hier vorzustellenden Werke stammen. Die Ausstellungen französischer Neoimpressionisten und Vincent van Goghs im Kunstsalon von Ernst Cassirer am Hamburger Jungfernstieg zwischen 1901 und 1907 beeindruckten Nölken; es folgte 1907 eine erste Parisreise, wo er sich dem Kreis der Künstler um das Café du Dôme anschloss. Auf Vorschlag von Karl Schmidt-Rottluff wurde Nölken 1908 Mitglied der Dresdner Künstlergruppe „Die Brücke“ (nur bis 1909). 1909 war er eine Zeit langt in Paris Schüler von Henri Matisse. 1914 folgte ein dritter Aufenthalt in Paris, wo ihn Picasso und Gauguin beeinflussten. Nölken fiel 1938 mit 34 Jahren kurz vor Kriegsende im Ersten Weltkrieg, an dem er seit 1917 als Soldat teilgenommen hatte.
Angeregt durch die erste Begegnung mit Paris und den dortigen Künstlern schuf Nölken nach seiner Rückkehr wohl im September 1907 in Borgeln bei Soest im Garten seiner Cousine Bertha Hülser eine Reihe von Kinderbildern – ein reizvolles Motiv, dass ihn zeitlebens beschäftigte – in Pastell, die in Technik, Zeichenweise und dem anspruchsvollen großen Format sicher durch die Begegnung mit Werken von Edgar Degas angeregt wurden. (Anm.3)
Die beiden in weite Kinderkleider gehüllten Mädchen des Hamburger Pastells (Inv.-Nr. 2008-1) – es könnte sich um Liese Johann und Sophie Pieper handeln (Anm.4) – scheinen unvermitelt auf dem Sandweg in einem Garten angesprochen worden zu sein und schauen sich noch in der Vorwärtsbewegung nach hinten um. Auffallend sind dabei die starke Buntfarbigkeit, die flächige Vereinfachung der Körper der Mädchen, mit der sich die Abwendung von der naturalistischen Formgebung vollzieht. Die Verbindung zu den Pastellen Degas‘ zeigt sich noch stärker bei den ebenfalls 1907 entstandenen „Zwei Mädchen beim Ankleiden“ (Anm.5) Zumindest das rechte Mädchen scheint sich hier Balletkleidung anzuziehen.
Es ist ein Glücksfall, dass beinahe zeitgleich mit dem Pastell nun auch die vorliegende Kohlestudie desselben Motives als Geschenk in das Kupferstichkabinett gekommen ist. Es handelt sich eindeutig um eine erste, noch flüchtige Vorstudie zu dem späteren großformatigen Pastell. Das linke Mädchen ist schon in derselben Körperhaltung ausgeführt, das rechte, halb hinter dem vorderen stehende Mädchen wendet sich jedoch noch nicht soweit um. Die Studie konzentriert sich auf die beiden Figuren, der Hintergrund des Gartens fehlt noch völlig.
Beide Arbeiten befanden sich nachweislich in der Sammlung von Ernst Rump und blieben sehr lange im Besitz der Familie. Im September 1908 gab Ernst Rump ein Konvolut von Zeichnungen an Nölken zurück, das er zur Ansicht erhalten hatte. In dem Begleitbrief schrieb er: “Die übrigen Zeichnungen (…) will ich mit nach Flottbeck nehmen (…). Sicherlich werde ich das eine oder andere Blatt behalten.” (Anm.6) Es ist denkbar, dass die Kohlezeichnung bereits zu diesem Zeitpunkt an Rump ging. Das Pastell war noch bis mindestens September 1909 im Atelier Nölkens, wie aus einem Brief an Rump, der wie so häufig Verkäufe zu vermitteln suchte, hervorgeht: “Somit habe ich nur wenig zu zeigen und es könnte sich als verkäufliche Sache nur um die Kinderpastelle in der Wohnung meiner Schwester, Ackermannstr. 91, handeln. (…). Die Kinderpastelle möchte ich um 500 M ansetzen, wenn er [Jerôme Friedmann (+1916); Anm. d. Verf.] mehr gibt, wehre ich mich nicht, es anzunehmen.” (Anm.7) Aus dem Verkauf wurde nichts und Rump “der Pfeffersack aus Flottbeck”, wie er sich gegenüber Nölken selbst scherzhaft bezeichnete (Anm.8), schrieb an diesen: “Das Sammeln von Hamburger neuzeitlichen Zeichnungen, das ist auch so eine Nummer von mir, und so bleiben diese Sachen in meiner Hand.” (Anm.9) Rump hat aus dem von ihm übernommenen Gemälden und Zeichnungskonvoluten immer wieder zugusten des Künstlers verkauft; diese beiden Werken verblieben, wie viele andere auch, jedoch in seiner eigenen Sammlung.

Andreas Stolzenburg

1 Zur Biographie: Carsten Meyer-Tönnesmann: Franz Nölken, in: Der neue Rump. Lexikon der bildenden Künstler Hamburgs; Altonas und der näheren Umgebung (…), Hamburg 2005, S. 318-319.
2 Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. HK-1764.
3 Eva Caspers: Anmerkungen zur Ausstellung, in: Ausst.-Kat. Franz Nölken 1884-1918”, Hamburg, Ernst Barlach Haus, Stiftung Hermann F. Reemtsma, Hamburg 1990, o. S. [S. 2]
4Vgl.”Perlenschnürende Kinder (Sophie Johann, Liese Johann, Sophie Pieper)”, um 1906/07, Privatbesitz; Franz Nölken 1884-1918. Mit Werkverzeichnis der Gemälde und Graphik (…), Soest 1984, S. 112, Nr. 98, Abb. Erwähnt sei auch Nölkens Gemälde der „Zwei Mädchen am Gartenzaun“ von 1904; ebd. S. 108, Nr. 32, Abb., vgl. S. 13, Abb. eines Fotos mit Nölken beim Malen des Bildes.
5 Franz Nölken 1884-1918. Ein Künstler der “Brücke”, Ausst.-Kat. Berlin, Brücke-Museum, Berlin 1987, o. S., Taf. 3; Verbleib unbekannt, vgl. Aukt.-Kat. Berlin, Sotheby`s, Berlin 1991, S. 13, Nr. 4, Abb. Auch eine Ähnlichkeit zu den Gemälden von Cuno Amiet wurde zu Recht beobachtet; Elisabeth Hipp, in: Die Brücke in Dresden 1905-1911, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister 2001, S. 131, Nr. 120. Auch Edvard Munch hatte ab 1905 großen Einfluss auf Nölken.
6 Brief v. 28. 9.1908; zit. nach Franz Nölken. 1884-1918. Briefe 1906-1918, Hamburg 1996, S. 26.
7 Brief v. 23. 9. 1909; ebd. S. 31-32. Zu Friedmann: Private Schätze. Über das Sammeln von Kunst in Hamburg bis 1933, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2001, S. 223-224.
8 Brief v. 23. 4. 1910; ebd., S. 35
9 Brief v. 30. 9. 1909; ebd., S. 35

Details zu diesem Werk

Kohle auf bräunlichem Papier 336mm x 215mm (Bild) 358mm x 249mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Erworben 2008 als Geschenk von Christiane van der Velde, Hamburg Inv. Nr.: 2008-4 Sammlung: KK Zeichnungen, 20.-21. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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