Giovanni Battista Piranesi, Radierer
Giovanni Bouchard, Verleger

"Der gotische Bogen", 1751 - 1754

Aus: "Invenzioni Capric di Carceri all' Acqua forte datte in Luce da Giovanni Bouchard in Roma Mercante al Corso", Rom 1751-1754, Tafel 12

Die Erstausgabe erschien 1750 bei Giovanni Bouchard in Rom mit vorerst vierzehn Tafeln und dem Titel "INVENZIONI CAPRIC DI CARCERI ALL' ACQVA FORTE DATTE IN LVCE DA GIOVANI BVZARD IN ROMA MERCANTE AL CORSO".

Erster Zustand vor den kräftigen vertikalen Linien am Geländer der Treppen im Vordergrund.
(vgl. Höper, Corinna: Giovanni Battista Piranesi. Die poetische Wahrheit, Stuttgart 1999, S. 129-146, Kat. 7; Robison, Andrew: Piranesi. Early Architectural Fantasies, Washington 1986, Nr. 40 I.)

Die Hamburger Kunsthalle besitzt eine ähnliche Zeichnung zu diesem Blatt, die vermutlich vor dem Stich entstanden ist (vgl. Inv.-Nr. 1915-648).


Jugendlicher Geniestreich? Wahnvorstellungen infolge eines Malariaanfalls? Bildnerisches Plädoyer für die unerreichte Größe Roms? Oder das Ergebnis der Niedergeschlagenheit eines fast arbeitslosen Architekten? – Kaum eine andere graphische Folge hat die Betrachter derart fasziniert und zu Deutungen veranlasst wie die ebenso berühmten wie geheimnisvollen Darstellungen von "Carceri" (Kerkerräumen) des Giovanni Battista Piranesi. Der venezianische Künstler veröffentlichte die zunächst vierzehnteilige Radierfolge erstmals um 1750 in Rom, doch fand das Werk anfangs kaum Beachtung. In den folgenden Jahren überarbeitete Piranesi sämtliche Blätter, wobei er die Szenen vor allem durch stärkere Hell-Dunkel-Kontraste ins Unheimliche und Bedrohliche veränderte. Es war dann die erstmals 1761 erschienene und um zwei Darstellungen erweiterte zweite Ausgabe, die den fast einzigartigen Nachruhm der "Carceri" wesentlich begründete.
Eine wesentliche Ursache für dieses Faszinosum liegt sicherlich in der Art, in der Piranesi seine „Carceri“ inszeniert, wie er mit den Erwartungen der Betrachter spielt und ihre Illusionen zerplatzen lässt.
Die auffallend großformatigen Darstellungen der „Carceri“ zeigen grandios und monumental ausgeführte mehrgeschossige Gefängnisräume. Ihre riesenhaften Pfeiler, kühnen Bögen und steilen Treppenläufe laden den Betrachter zunächst ganz unmittelbar und scheinbar unverfänglich zur näheren Betrachtung ein. Der Blick wird angesichts der beeindruckenden Architektur gleichsam in die Bildräume hineingesogen. Beim genaueren Hinschauen kommt es jedoch sehr schnell und dann immer wieder zu irritierenden, weil ungewohnten Seherfahrungen. Denn die Raumgebilde erweisen sich in ihrer Logik als nicht stringent. Charakteristisch ist vor allem die widersinnige Kombination architektonischer Elemente: Mauern, Rampen, Treppen, Spiralen, Türme, Bögen, Gewölbe und Pfeiler sind auf eigentümliche Weise übereinandergestellt sowie ineinander verschachtelt, womit permanent physikalischen Gesetzen widersprochen wird. Folgt der Betrachter den angebotenen Pfaden, so wird er immer wieder enttäuscht, wenn etwa Brücken unterbrochen sind oder Wege plötzlich an geschlossenen Mauern enden. Auf diese Weise zerfallen die Räume in einzelne Segmente und werden letztlich ausweglos. Der Betrachter ist Gefangener dieser Raumgebilde, die sich in schwindelnde Höhen und ins Unheimliche weiten.(AK Coburg, zit,)
Die Irritation des Betrachters wird noch dadurch gesteigert, dass Piranesi die über Jahrhunderte sakrosankte Zentralperspektive aushebelt und stattdessen immer wieder die Fluchtpunkte verschiebt. Hierdurch werden Proportionen verzerrt und räumliche Grenzen aufgehoben. Unbehaglich ist zudem das für Gefängnisse typische Instrumentarium von Gittern, Flaschenzügen und Ketten. Und wenig erbaulich ist für den Betrachter letztlich auch die Situation der auf den Graphiken in unterschiedlichen Proportionen gezeigten menschlichen Wesen. Sie wirken in den Riesenräumen zumeist sehr verloren und sind diesen scheinbar hilflos ausgeliefert.
Die „Carceri“ verdanken ihre enorme Wirkung nicht allein der motivischen Erfindungsgabe Piranesis, sondern auch dessen stupenden technischen Fähigkeiten. Piranesi führt seine architektonischen Visionen mit einer sehr virtuos eingesetzten Radiernadel vor Augen. Er akzentuiert die Graphiken mittels zahlreicher Ätzvorgänge und setzt auch den Grabstichel ein. Konträr zu der Mehrzahl zeitgenössischer Architekturansichten, ist seine Strichführung extrem unruhig, geradezu vibrierend. Die in der Edition von 1761 betonten Hell-Dunkel-Kontraste wurden von ihm im Laufe der 1760/70er Jahre auch mittels schwarzer Tinten noch einmal deutlich verstärkt, was wesentlich zur einschüchternden Wirkung der Kerkerszenen beiträgt.
Als Ausdruck existentieller Bedrohung fasziniert die Folge der „Carceri“ die Menschen seit mehr als 260 Jahren auf besondere Weise. Zahlreiche bildende Künstler, Schriftsteller und Filmemacher ließen sich von ihr zu eigenen Schöpfungen anregen. Die Reihe der von den „Carceri“ inspirierten bedeutenden Anverwandlungen reicht von Horace Walpoles „Castle of Otranto“ über Fritz Langs „Metropolis“ zu den populären Graphiken des Niederländers Maurits Cornelis Escher (Nr. xx). Und auch im von großen Unruhen und Unsicherheiten geprägten 21. Jahrhundert dürften Piranesis Visionen von ungebrochener Anziehungskraft sein.


Details zu diesem Werk

Radierung, Kaltnadel, offene Ätztung 413mm x 547mm (Platte) 514mm x 705mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Erworben 2005 mit Mitteln der Campe'schen Historischen Kunststiftung Inv. Nr.: 2005-35-12 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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