Felice Giani

Waldlandschaft mit dem Grab des Mycon, 1812/13

Der an der Accademia di S. Luca in Rom bei Pompeo Batoni und Cristoforo Unterberger ausgebildete und vor allem in Bologna, Faenza, Rom und Paris tätige Giani war ein Kenner der Geschichte, Literatur und der antiken Mythologie. Er leitete eine große Werkstatt zur Ausstattung von Palästen und Theatern, wobei er und seine Mitarbeiter neben den figürlichen und landschaftlichen Malereien in brillanten Temperafarben auch die Ornamentik, den Stuck und sogar das Mobiliar der als „Gesamtkunstwerke“ erdachten Innenräume gestalteten.
Ein Höhepunkt in Gianis Karriere war 1812 der Auftrag Napoleons zur Gestaltung mehrerer Raumfolgen im Palazzo Quirinale in Rom. Im selben Jahr wurde er nach Frankreich berufen, wo er die Villa Aldini in Montmorency bei Paris ausgestaltete. Im Auftrag des Grafen Antonio Aldini, seit 1805 „Segretario di Stato del Regno d’Italia“, schuf Giani hier mit seiner Werkstatt die gesamten Innendekorationen eines zu einer zeitgemäßen Villa umgebauten Schlosses des 18. Jahrhunderts. Aldini hatte das berühmte Anwesen 1810 erworben und steckte bis 1814 enorme Summen in die italianisierende Umgestaltung und die Verwandlung des Gartenareals in einen mit Monumenten bestückten Englischen Garten.(Anm. 1)
Zeichnungen Gianis in Bologna (Pinacoteca Nazionale) und Rom (Museo Napoleonico), in Format und Zeichentechnik dem Hamburger Blatt verwandt, zeigen zwei Ansichten der Villa Aldini: das „Romitorio pittorico“ – eine künstliche Einsiedelei innerhalb des Parks, die wohl dem Künstler als Atelier diente – und einen See mit Kenotaphen, auf denen die Namen Voltaires und Rousseaus zu lesen sind. An letztere Komposition lässt sich die Hamburger Zeichnung anschließen. Sie stammt aus einem erstmals 2002 auf dem Londoner Kunstmarkt aufgetauchten, inzwischen aufgelösten Klebeband des 19. Jahrhunderts, der insgesamt siebzehn Zeichnungen von Giani und dessen österreichischem Schüler Michael Köck enthielt.
An einem eng von alten Bäumen umstandenen, schattigen Waldweg, der nach links im Hintergrund in eine hell erleuchtete Landschaft mit einem Aquädukt und einer markanten Bergformation führt, befindet sich rechts ein griechisch anmutender Sarkophag, aus dem ein Brunnen entspringt. Vor dem Sarkophag stehen Wanderer in emphatischer Pose, die der Künstler mit gleichsam ekstatisch geführter Feder gezeichnet zu haben scheint. Sie bemühen sich, den üppig rankenden Efeu beiseite zu schieben, um eine verborgene Inschrift lesen zu können: „A DEI UOM/DA BENE“. Links des Kenotaphs steht am Wegesrand ein „APOL[L]“ beschrifteter Rundaltar mit einer Herme des Gottes Pan dahinter. Rechts sitzen ein Mann und eine Frau auf einem Steinblock. Die Frau hält neben sich eine Amphora zum Wasserholen. Hinter den beiden steht ein Hund, der in Richtung des Waldesdunkels Witterung aufzunehmen scheint. Die von Giani unter das Bildfeld gesetzte Schriftzeile „La Tomba dal Uomo da Bene […] Ghesner“ bezeichnet den Kenotaph als das „Grab des Guten Menschen“ und nennt offensichtlich als literarische Inspirationsquelle den Schweizer Dichter Salomon Geßner (1730– 1788). Tatsächlich findet sich in Geßners 1772 in Zürich erschienenen „Neuen Idyllen“ die Erzählung des guten und redlichen Menschen Mycon, in dem die „Tomba dell’ Uomo da Bene“ Gianis ihren Ursprung hat.(Anm. 2)
Der Ich-Erzähler der Idylle und sein Begleiter Milon wanderten von Milet zu einem nicht näher charakterisierten Apollon-Heiligtum und suchten Ruhe und Erquickung nach dem langen Marsch. In einem tiefdunklen Waldstück stießen sie auf eine Quelle, die aus der Basis eines von Geißblatt und Efeu umrankten Grabmals hervorsprudelte. Beim näheren Betrachten dieses Grabmals entdeckten die Wanderer eine Inschrift, aus der hervorging, dass hier die Asche des Mycon liege. Im weiteren Verlauf der Erzählung kam ein „schönes Weib“ mit einem Wasserkrug des Weges; sie berichtete auf die Frage der Wanderer nach dem wohltätigen Erbauer dieses Brunnens ausführlich vom Leben des Mycon, der zu Lebzeiten den müden Wanderern selbst Erquickung bot und ihnen Wasser überreichte; und wie es seine redliche Art war, mit Hilfe der von ihm erdachten Grab- und Brunnenanlage und mit dem Wohlwollen des Gottes Apoll dies auch über seinen Tod hinaus zu tun beabsichtigte.
Nur mit wenigen kompositorischen Abweichungen – es sind hier vier Wanderer zu sehen – gibt uns Giani, der sicher eine der frühen italienischen Übersetzungen der „Idyllen“ kannte, eine klare Vorstellung von diesem wunderbaren, erquickenden Ort. Auch Motive aus Geßners selbst gezeichneten Idyllen bzw. dessen die eigenen Werke begleitenden Vignetten haben Giani zu einer künstlerischen Auseinandersetzung angeregt. Aus einer der vielen einschlägigen Stichkompositionen Geßners wird Giani auch die Herme des Gottes Pan mit dem Rundaltar entnommen haben, die in der Mycon-Erzählung nicht vorkommt. Die Zeichnung spiegelt Geßners in den „Idyllen“ immer wieder variierten Gegensatz zwischen der ruhigen, ursprünglichen Natur und dem Einbrechen des dionysischen Elementes. Besonders die für Giani typischen, furiosen Federstriche mit ihrem starken Helldunkelkontrast suggerieren das bei Geßner explizit erwähnte Waldesdunkel in kongenialer Weise.
Zusammen mit den beiden oben erwähnten Zeichnungen zum Park der Villa Aldini in Bologna und Rom sowie zwei weiteren 2002 versteigerten Blättern – eine Aussicht vom Park in Richtung Paris und eine Ansicht des Gartens mit Blick auf einen Kenotaph für den italienischen Dichter Ariost – scheint das Hamburger Blatt aus einer umfangreicheren Serie von gezeichneten Ansichten des abwechslungsreich und höchst gelehrt ausgestalteten Englischen Gartens zu sein. Die bekannten Blätter besitzen eine Nummerierung, wobei das Hamburger Blatt mit der Nummer sechs die höchste bisher bekannte Zahl aufweist. Ausgangspunkt für die gewählten Szenerien war für den Grafen Aldini demnach stets eine Schriftsteller- oder Philosophenpersönlichkeit; neben Ariost, Voltaire und Rousseau war es hier Salomon Geßner. Ob die von Giani wiedergegebenen Szenerien den Gegebenheiten des Englischen Gartens in Montmorency in annähender Form entsprochen haben, ob es sich dabei lediglich um Entwürfe desselben oder eventuell um Studien zu Wandbildern handelt, bleibt unklar. Nach dem Sturz Napoleons haben preußische Truppen 1815 den Park und das Anwesen vollständig zerstört. Von Gianis Hauptwerk in Frankreich blieben nur die wenigen bis heute bekannt gewordenen Zeichnungen.

Andreas Stolzenburg

1 Das Anwesen genoss bereits damals einige Berühmtheit, da dort der Hofmaler Charles Le Brun seinen Alterssitz genommen und den Park nach eigenen Ideen gestaltet hatte; hier hatte auch der Philosoph Jean-Jacques Rousseau bis zu seinem Gang ins Exil 1762 Zuflucht gefunden.
2 Vgl. Salomon Geßner: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. v. E. Theodor Voss, 3. durchgesehene u. erweiterte Aufl., Stuttgart 1988, S. 104–105; „So gingen wir schmachtend: Aber wir verlängerten die Schritte, denn vor uns sahen wir am Wege dicht emporstehende Bäume; schwarz war der Schatten unter ihnen wie Nacht. Mit schauerndem Entzücken traten wir da in die lieblichste Kühlung. Entzückender Ort, der so plötzlich mit jeder Erquickung uns übergoß! Die Bäume umkränzten ein grosses Beth [sic], worein die reinste, die kühleste Quelle sich ergoß. […] Aber die Quelle rauschte aus dem Fuß eines Grabmals hervor, das Geißblatt und die schlanke Winde und schleichender Efeu umwanden. […] Hier, sprach Milon, hier an der Vorderseite des Grabmals sehe ich unter den Ranken von Geißblatt eingegrabene Züge; vielleicht sagen uns die, wer es ist, der so für des Wanderers Erfrischung sorgt. Und jetzt hob er die Ranken mit seinem Stab, und las: Hier ruht die Asche des Mycon! Gutthätigkeit war sein ganzes Leben. Lange nach seinem Tod wollt’ er noch gutes thun, und leitete diese Quelle hierher, und pflanzte diese Bäume.“

Details zu diesem Werk

Feder und Pinsel in Braun über schwarzer Kreide 457mm x 626mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Erworben 2004 mit Mitteln der Campe'schen Historischen Kunststiftung Inv. Nr.: 2004-23 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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