Lovis Corinth

Selbstporträt als sitzender, zeichnender Akt, 1907

In Folge seiner langjährigen Ausbildung, unter anderem an der Pariser Académie Julien bei Tony Robert-Fleury und William Bouguereau von 1884 bis 1887, beschäftigte sich Lovis Corinth intensiv mit der Zeichnung. Seiner klassisch akademischen Ausbildung treu bleibend, galt Corinth die Beherrschung der Aktzeichnung als unumgänglich für die oft figurenreichen Kompositionen seiner ambitionierten Historiengemälde, die ihn seit den 1890er Jahren beschäftigten. Doch sah Corinth in der Selbstdarstellung nicht nur die beste Möglichkeit für die Beschäftigung mit der menschlichen Figur, eine Übung, die er 1908 in seinem Handbuch Das Erlernen der Malerei beschrieb: „Das beste und willigste Modell aber ist „man selbst“. [...] Die Sucht, sich selbst kennen zu lernen; die Möglichkeit, jeden Augenblick, in welchem man sonst unbeschäftigt wäre, auf diese Weise lehrreich ausnutzen zu können, die Billigkeit des Modells, denn es ist nur ein guter Spiegel nötig; – am allermeisten aber die Lust, ganz nach eigenem Gutdünken, ohne jede andere Beeinflussung das Arrangement und die Auffassung treffen zu können, macht das Selbstporträt zum bevorzugten Studienmittel aller Maler.“ (Anm. 1) Ebenso verband Corinth im Selbstbildnis die künstlerische Aufgabe mit der persönlichen Befragung. Daher nimmt nicht nur das gemalte, sondern auch das gezeichnete Selbstporträt in Corinths Werk großen Raum ein. (Anm. 2)
Das Blatt Selbstporträt als sitzender, zeichnender Akt zeigt eine solche Situation der Selbstanalyse, in der die äußere Erscheinung mit schnellem Strich eingefangen wird. Als Akt auf einem nur angedeuteten Stuhl leicht schräg im undefinierten Bildraum positioniert, wendet sich der Kopf zurück und der Blick richtet sich gerade in den gegenüber liegenden Spiegel. Die Aufmerksamkeit auf das Schauen, direkt und prüfend, zeigt sich in der dunklen und tiefliegenden Augenpartie, während die Körperform in der Kontur der offenen Rückenlinie, der herabfallenden Schultern, dem sich wölbenden Bauch, der Unterarme und der Beine nur angedeutet wird. Im Vergleich mit ähnlich angelegten, aber detailreicheren Bildnissen wie dem Selbstbildnis mit Gattin (vgl. Inv. 33714) oder dem Selbstbildnis radierend (vgl. Inv. 33719) wird deutlich, wie versiert Corinth in der Darstellung seiner Gesichtszüge war. In der Zeichnung setzte er auch für die Gesichtszüge verkürzt-spontane Mittel ein – so fahren die den Schatten erzeugenden Schraffuren über die Grenzen des Gesichts hinaus, Nase, Bart und Mundpartie gehen konturlos ineinander über –, und dennoch treten seine charakteristische Physiognomie wie sein forschender „Künstlergeist“ eindringlich hervor.

Judith Rauser

1 Lovis Corinth, Das Erlernen der Malerei, Berlin 1908, S. 122.
2 Vgl. Ich, Lovis Corinth. Die Selbstbildnisse, hrsg. v. Ulrich Luckhardt, Uwe M. Schneede, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2004.

Details zu diesem Werk

Bleistift 332mm x 255mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Erworben 2004 als Geschenk der Freunde der Kunsthalle Inv. Nr.: 2004-17 Sammlung: KK Zeichnungen, 20.-21. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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