Albrecht Dürer (Kopie nach)
Stehender weiblicher Akt
Das Blatt wurde 1968 in einem Klebeband der ehemaligen Hamburger Ratsbibliothek entdeckt, der sich zunächst als Leihgabe und seit 1994 als Dauerleihgabe der Staats- und Universitätsbibliothek in der Hamburger Kunsthalle befindet. (Anm. 1) Eckhard Schaar schrieb die Zeichnung 1996 Dürer zu und datierte sie auf Grund des Wasserzeichens in das Jahr 1519. (Anm. 2) Als vergleichbare Darstellungen führte er die Dresdner Proporti-onsstudie eines weiblichen Aktes und die damit eng verwandte Berliner Aktfigur mit Wappenschild an, die beide um 1500 datiert werden. (Anm. 3) Die Rückseite des Berliner Blattes zeigt die anatomisch ausgearbeitete Durchzeichnung der Proportionsfigur, um die ein schwarz-brauner Grund getuscht ist. Dabei fehlt, wie auch bei unserem Blatt, bis auf den Ring die Lampe, die bei der Berliner Konstruktionszeichnung auf der Vorderseite noch von der Figur in der erhobenen rechten Hand gehalten wird. Im Gegensatz zu dem Hamburger Akt ist die Berliner Zeichnung nicht farbig aquarelliert und Kopf und Schild weichen in der Ausführung voneinander ab. Insgesamt ist die Nähe zu dem Berliner Blatt jedoch überzeugend, weshalb Schaar unsere Zeichnung als eine eigenhändige Kopie Dürers nach der Berliner Verso-Darstellung deutete.
Die Zuordnung an Dürer wurde von Lisa Oehler 1999 zurückgewiesen.(Anm. 4) Sie weist nicht nur auf stilistische Eigenheiten, wie den für Dürer eher unbekannten Gesichts- und Augenausdruck, die Darstellung der Hände sowie die ebenso untypische gleichzeitige Verwendung von Feder und rotbrauner Lavierung hin, sondern vermutet darüber hinaus auf Grund des Monogramms Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553) oder seine Werkstatt als Urheber der Zeichnung. Oehler verweist auf ähnliche „falsche“ Dürer-Monogramme, die alle zwischen 1508–17 entstanden, weshalb sie eher diesen Zeitraum als Entstehungszeit der Zeichnung vorschlägt. (Anm. 5) Eine erneute Gegenüberstellung des Hamburger und des Berliner Blattes hat gezeigt, dass die Zuschreibung an Dürer nicht aufrecht erhalten werden kann. (Anm. 6) So wirkt die Darstellung des Hamburger Aktes eindeutig derber und insgesamt für Dürer untypisch in der Strichführung und Kolorierung. Dies zeigt besonders der Vergleich mit den bekannten Vorstudien für die Darstellungen der „Eva“ in Berlin, Dresden und London sowie mit den anderen ab 1513 entstandenen Aktfiguren. Sowohl die in der Modellierung wesentlich lichter gestaltete Proportionsstudie in London von 1500 als auch die in der Bewegung ausdrucksstärkere „Eva“ in Wien von 1506 zeigen keine Gemeinsamkeiten mit der Hamburger Darstellung. (Anm. 7) Die dichten Kreuzschraffuren der Binnenzeichnung finden sich dagegen auf dem Berliner Blatt wieder. Die damit angedeuteten Licht- und Schattenzonen scheinen in der Hamburger Kopie durch die Kolorierung übertrieben herausgearbeitet, wie auch der schwarze Grund, der die Figur zu folienhaft hinter fängt. Besonders in den Zwischenräumen von Körper und linkem herabhängendem Arm wirkt diese Grundierung unsensibel. Auch die fast bildhafte Ausführung des Kopfes, blassrosa koloriert, weicht von dem Berliner Original ab und kennt in anderen Aktdarstellungen Dürers keine Parallele. Die Eigenhändigkeit Dürers kann daher ausgeschlossen werden, vielmehr weist die Zeichnung alle Züge einer Kopie nach Dürer auf. Deutlich wird dies auch in der Linienführung am Jochbein und am Bauch, die noch den Zirkelschlägen der Berliner Reinzeichnung folgt, aber nicht direkt auf eine eigene Konstruktionszeichnung zurückzuführen ist. Der insgesamt starre und verharrende Ausdruck der Zeichnung lässt daher darauf schließen, dass es sich bei unserem Blatt um die späte Kopie eines unbekannten Künstlers nach der Berliner Vorlage handelt.
Petra Roettig
1 Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 1996/64 (Folge 383).
2 Schaar 1998. Dasselbe Wasserzeichen findet sich auch auf einem Blatt der Schongauer-Werkstatt mit der Darstellung von Schnecke, Schlange, Eidechse und Frosch im Berliner Kupferstichkabinett, KdZ 695. Beide Wasserzeichen haben dieselbe Stegbreite und Hutgröße. Das Berliner Blatt wird um 1495 datiert. Vgl. Ausst.-Kat. Basel 1997, S. 32–33, Nr. 1.5 mit Abb.
3 Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, Inv.-Nr. R–147, fol. 163r und 163v, vgl. Strauss 1974, Bd. 2, S. 542, Nrn. 1500/25 und 1500/26, Abb.; Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ 44, vgl. Ausst.-Kat. Berlin 2006, S. 82–83, Nr. 40, Abb.
4 Oehler 1999, S. 309–311.
5 Ebd., S. 309 mit Abb. Oehler schreibt diese Form des Monogramms Hans Spinginklee zu und nennt als Vergleichsbeispiele die Zeichnungen „Maria mit Kind“, Seattle, Art Museum, vgl. Strauss 1974, Bd. 3, S. 1412, Nr. 1514/10, Abb., „Entwurf für zwei Teile einer Rüstung“, Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ 21559, vgl. ebd., S. 1650, Nr. 1517/6, Abb. und „Flußlandschaft“, Cambridge, Fitzwilliam Museum, Inv.-Nr. 2042, vgl. ebd., S. 1776, Nr. 1519/11, Abb.
5 Anlässlich des Symposiums „Deutsche Altmeisterzeichnungen 1500 bis 1800“ am 28. und 29.10.2004 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, vgl. Im Blickfeld. Die Jahre 2003/2004 in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2005, S. 111.
6 Vgl. Ausst.-Kat. Berlin 2006, S. 83.
7 London, British Museum, Inv.-Nr. Sloane 5218–184, vgl. Ausst.-Kat. London 2003, S. 137–138, Nr. 70; Wien, Albertina, Inv.-Nr. 3081, vgl. Albrecht Dürer, Ausst.-Kat. Wien 2003, S. 259, Nr. 67. Thomas Schauerte hat im Osnabrücker Ausstellungskatalog von 2003, S. 138, darauf hingewiesen, dass die Kopfhaltung der Hamburger Aktfigur in Übereinstimmung mit der Berliner Zeichnung der Darstellung der Madrider „Eva“ ähnelt.