Philipp Otto Runge

Konstruierter Kopf (Konstruktionszeichnung zur "Aurora" des Gemäldes "Der große Morgen"), 1809

Die Grundlage des konstruierten Kopfes bildet ein geometrisches Schema aus vier sich an ihrem horizontalen bzw. vertikalen Durchmesser überschneidenden Kreisen. Ihre miteinander verbundenen Mittelpunkte bilden ein schrägstehendes Quadrat, auf dessen beiden unteren, schräg nach oben verlaufenden Linien sich in der Mitte der Mittelpunkt der Augen befindet. Die Oberkante des Nasenflügels und Mittelpunkt des Mundes ergibt sich aus der Konstruktion eines zusätzlichen Kreises, dessen Mittelpunkt auf dem unteren Kreis liegt. Die Annäherung an die menschliche Gestalt unter konstruktiven bzw. vermessungstechnischen Gesichtspunkten war in damaligen didaktischen Zeichenlehrwerken zwar nicht ungewöhnlich (Anm. 1), doch ist der von Runge beschrittene Weg der Herleitung des Gesichts aus Kreisen und Linien wohl ohne Vergleich. Er erinnert in der konsequenten Entwicklung aus der Urform des Kreises an Runges „erste Figur der Schöpfung“, die er 1803 einem Brief an Tieck beigab (Anm. 2).
Der durchdringende Blick in Verbindung mit der starren Frontalität steht den ersten Entwürfen zur Aurora im „Großen Morgen“ nahe. Besonders Auroras Gesicht auf Inv. Nr. 34191 zeigt ebenfalls jene aus der Konstruktion herrührenden Merkmale wie Frontalität und Intensität des Blicks sowie die regelmäßige ovale Kopfform. Es ist vorstellbar, dass Inv. Nr. 1996-37 am Beginn eines solchen Entwurfsprozesses stand und belegt nicht nur, wie sehr Runge auch beim „Großen Morgen“ von konstruktiven Gesichtspunkten geleitet wurde, sondern auch wie sehr Runge von den abstrakten geometrischen Formen ausgehend auf die ideale Gestalt des Menschen schloss.

Peter Prange

1 Vgl. Bertsch, in: Runge 2010, S. 188.
2 Brief vom April 1803 an Tieck, vgl. HS I, S. 41.

Details zu diesem Werk

Bleistift; z. T. unter Verwendung eines Zirkels 289mm x 225mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1996-37 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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