Rosemarie Trockel
Niels Borch Jensen, Kopenhagen, Drucker
Helga Maria Klosterfelde Edition, Hamburg, Verlegerin

Ohne Titel, 1993

Aus: "What it is like to be what you are not", Mappe mit 8 Photogravüren und 1 Karton mit 9 Postkarten zum Ausschneiden, Hamburg 1993, Blatt 6

Bekannt geworden durch ihre Strickbilder, hinterfragt Rosemarie Trockel in ihren Werken auf ironisierende Weise gesellschaftliche Strukturen. Sie beschäftigte sich beispielsweise mit Tierversuchen und deren Relevanz für Verhaltensmuster des Menschen. Das 1993 entstandene Portfolio What It Is Like to Be What You Are Not („Wie es ist, zu sein, was Du nicht bist“), das sich diesem Interessenspektrum zuordnen lässt, führt die Betrachter*innen durch eine Reihe von Bildern, die Spinnennetze in unterschiedlichsten Ausformungen zeigen. Der Titel der Serie bezieht sich auf den Aufsatz What Is It Like to Be a Bat? („Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“) (1974) des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel, der sich mit verschiedenen Bewusstseinsformen befasst. Die Bilder basieren auf der photographischen Dokumentation von Spinnennetzen, die Trockel einem 1949 begonnenen wissenschaftlichen Experiment des Pharmakologen Peter Witt entnahm, bei dem den Spinnen bewusstseinsverändernde Substanzen verabreicht wurden, um die unterschiedlichen Wirkungen zu untersuchen. Die Studie ergab, dass Spinnen unter Drogeneinfluss unvollkommene und damit für die Nahrungssicherung unbrauchbare Netze spinnen. (Anm. 1) Durch die Zuführung von Koffein bildete sich ein konfuses Gespinst, Marihuana führte zum ansehnlichsten Netz, und das ebenmäßigste entstand unter dem Einfluss von LSD. Trockel betonte die verzerrten Formen, indem sie die Bilder beschnitt und vergrößerte, die unregelmäßigen Erscheinungen hervorhob und dadurch asymmetrische und abstrakt wirkende Darstellungen schuf. Damit weist sie auf ähnliche Verhaltens- und Reaktionsweisen von Tier und Mensch hin – und stellt in ihrem pointierten künstlerischen Kommentar zum naturwissenschaftlichen Experiment einen vermeintlich unüberwindlichen Dualismus von Natur und Kultur und allzu strikte Grenzziehungen infrage.


Rosemarie Trockel’s works, such as her well-known knitted pieces, ironically question social structures. She has dealt, for example, with animal experiments and their effect on human behaviour. Her 1993 portfolio What It Is Like to Be What You Are Not continues her exploration of these themes, leading the viewer through a series of pictures of spider webs in a wide variety of forms. The title of the series refers to the 1974 essay “What Is It Like to Be a Bat?” by the American philosopher Thomas Nagel, which deals with different forms of consciousness. As the basis for her images, Trockel used photographs of spider webs from a scientific experiment begun in 1949 in which the pharmacologist Peter Witt administered mind-altering substances to spiders in order to investigate the effect on their webs. The study revealed that drugged spiders spin imperfect webs, which are of no use to secure food. (Note 1) An intake of caffeine led to confused webs, marijuana produced the most attractive webs, and the most regular ones were formed under the influence of LSD. Trockel accentuated the distorted shapes by cropping and enlarging the pictures, emphasising the irregularities and thus creating asymmetrical and abstract-looking representations. In so doing, she pointed out the similar behaviours and reactions of animals and humans – questioning in her trenchant artistic commentary on the scientific experiment the supposedly insurmountable dualism between nature and culture, and the overly strict demarcations between them.

Leona Marie Ahrens


Lit.: Im Blickfeld (2.1997). Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle. Der Ausstieg aus dem Bild, hg. von | ed. Hamburger Kunsthalle. Hamburg 1996, S. | p. 187.
Rosemarie Trockel. Arbeiten auf Papier 1980–1997 aus dem Kupferstichkabinett Basel, Ausst.-Kat. | exh. cat. Kunsthalle Tübingen. Tübingen 1998.

1 Mit der Helga Maria Klosterfelde Edition entwickelte die Künstlerin einen Karton mit neun Postkarten zum Ausschneiden; acht Postkarten entsprechen den Photogravüren, die neunte Postkarte stellt ein Spinnennetz dar, in dem ein Insekt gefangen ist. Mit der Wet-,n‘-View-Technik wird bei Befeuchtung der Postkartenoberfläche das Spinnennetz transparent und das Insekt tritt optisch hervor. Der Effekt ist reversibel und unterstreicht damit die ironisierende Wirkung. | In collaboration with the publisher Helga Maria Klosterfelde Edition, the artist developed a cardboard sheet with nine cut-out postcards; eight postcards correspond to the photogravures, and the ninth postcard portrays a spider’s web in which an insect is trapped. The postcard is printed with a “wet and view” ink, so that when the surface of the postcard is moistened, the spider’s web becomes transparent and the insect emerges into view. The effect is reversible and thus underlines the ironic effect.

Details zu diesem Werk

Photogravüre, Papier, Somerset-White Satin 382mm x 250mm (Bild) 578mm x 446mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1995-13-6 Sammlung: KK Druckgraphik, 20.-21. Jh. Anzahl Teile: 9 © VG Bild-Kunst, Bonn / Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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