Stefano della Bella

Fliehender Mann

Die Zeichnung zählt innerhalb der Gruppe der Todesdarstellungen zu den faszinierendsten Kompositionen della Bellas. Dies liegt vor allem daran, dass der Künstler das Grauen des vom Tod bedrohten Menschen sehr eindringlich dargestellt hat.
Die zentrale Figur der Komposition ist ein halbnackter, bärtiger Mann, der mit erhobenen Armen und geöffnetem Mund vor einer für den Betrachter kaum zu erkennenden Bedrohung zu fliehen scheint. Im dichten Liniengeflecht hinter dem Verfolgten sind allenfalls einzelne Körperformen wie etwa ein kahler Schädel, der als Hinweis auf den Tod interpretiert werden könnte, zu erahnen. Dadurch, dass della Bella es bei schemenhaften Andeutungen belässt, verstärkt er den Eindruck des Unheimlichen.
Die Szene ist mit großer Virtuosität gezeichnet. Für die Vehemenz der Ausführung spricht die mehrfache Veränderung der Beinstellung des Flüchtenden und das nahezu abstrakte Liniengeflecht im oberen Bereich der Komposition.
Wie bei kaum einem anderen Projekt lässt sich della Bellas intensive Suche nach der optimalen Form an mehreren Zeichnungen nachverfolgen. Auf all diesen Blättern ist die Komposition in ein ovales Bildfeld eingestellt. Dies entspricht della Bellas Radierungen mit Todesdarstellungen und deutet nachdrücklich darauf hin, dass er auch für diese Komposition eine Veröffentlichung plante. Alle Blätter sind virtuos in Feder ausgeführt, einige sind laviert.
Stilistisch deuten alle Studien in die Spätzeit des Künstlers nach seiner Rückkehr aus Paris.
Etwas früher als die Hamburger Zeichnung ist ein Blatt in den Uffizien(Anm.1) anzusetzen, da dort beide Beine des Flüchtenden leicht angehoben sind; mit seinem linken Arm stützt er sich ab, während er den Rechten hochhält. Dies deutet darauf hin, dass er von einem erhöhten Punkt herabspringen will.
Eine fast identische Haltung mit der Studie im Klebeband weist auch eine Zeichnung in St. Petersburg(Anm. 2) auf. Vor allem das unruhige Liniengeflecht des Hamburger Blattes ist hier bereits erkennbar.
Einen weiteren Entwicklungsschritt zeigt ein in Privatbesitz befindliches Blatt.(Anm. 3) Dort hat der Fliehende beide Arme erhoben und tritt mit einem Bein auf den Boden auf. Pose und Gesichtsausdruck entsprechen der Hamburger Version. Allerdings ist bei dem Blatt in Privatbesitz die Körperdrehung weitergeführt, sodass die Bewegung des Mannes eindeutiger nach rechts weist. Stärker herausgearbeitet als auf dem Hamburger Blatt ist zudem der Tod, dessen kahler Schädel und knochiger Schulteransatz deutlich erkennbar sind.
Den nächsten Schritt in della Bellas Prozess der Bildfindung stellt offensichtlich eine nahezu gleichgroße Zeichnung in Rom(Anm. 4) dar. Sie zeigt den Gepeinigten nun mit beiden Beinen auf dem Boden stehend. Wirkte die Bewegung auf dem Hamburger Blatt noch dynamisch und vom Verfolger weg ausgerichtet, so erscheint sie nun gebremst. Offensichtlich wird der Mann von dem hinter ihm befindlichen Wesen umfasst und festgehalten. Diese Gestalt ist im Gegensatz zu dem durch eine klare Kontur dargestellten Flüchtenden allein aus einem Geflecht von über- und gegeneinander gesetzten Linien gebildet. Die verdichteten Strichlagen lassen eine Hand und einen nach links gewandten Kopf mit dunklem, aufgerissenem Mund erkennen. Bei aller Abstraktion ist dennoch unzweifelhaft, dass es sich hier nur um den Tod handeln kann.
In die Gruppe der angstvoll schauenden Menschen gehört auch eine Federzeichnung in Brunswick (Maine).(Anm. 5) Dieser Mann stützt sich mit einem Arm auf, mit dem anderen nimmt er eine Schutzhaltung ein, die in diesem Fall auf eine nicht sichtbare Bedrohung vor ihm ausgerichtet ist. Die gekonnte summarische Erfassung des Körpers mit wenigen Strichen lässt eine Datierung in die Spätzeit vermuten, womit auch ein zeichentechnischer Bezug zu den anderen erwähnten Blättern hergestellt werden kann.
Angesichts der intensiven Beschäftigung mit dieser Komposition ist es verwunderlich, dass della Bella diese Idee nicht als Radierung ausführte. Dies könnte damit zusammenhängen, dass diese Komposition wie Inv.-Nr.1967-113 und -114 als Teil einer zweiten Serie mit Todesdarstellungen vorgesehen war, der dann aber aufgrund von della Bellas Tod nicht mehr als Radierung realisiert werden konnte. Dabei ist als wesentlicher Unterschied zu den Inv.-Nrn.1967-113 und -114 festzuhalten, dass in diesem Fall offensichtlich nicht einmal ein Probedruck entstanden ist.

David Klemm

1 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 8013 F. Die technische Ausführung ist unter-schiedlich, da della Bella auf dem Florentiner Blatt mehr Kreide einsetzt und zudem das abstrakte Liniengeflecht im Hintergrund nur ansatzweise angelegt ist. Eine frühe Vorstudie der Kompositionsidee zeigt womöglich eine Männerdarstellung auf einer Zeichnung, die sich 2008 im Kunsthandel Thomas le Claire, Hamburg, befand.
2 St. Petersburg, Staatliches Museum Eremitage, Inv.-Nr. 14171.
3 Privatbesitz; vgl. die Abb. bei Viatte 1978, Taf. 8.
4 Rom, Istituto Nazionale per la Grafica, Gabinetto Nazionale delle Stampe, Inv.-Nr. FC 126034.
5 Brunswick (Maine), Bowdoin College Museum of Art, 178 x 134, Feder in Braun.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun über Graphit, grau laviert 161mm x 139mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1967-111 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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