Giovanni Battista Tiepolo (Nachahmer)

Satyrfamilie (?)

Das Blatt wurde in der Sammlung Hellen – wohl aufgrund der Bezeichnung auf dem Verso – Paolo Farinati (um 1524–1606) zugeschrieben. Diese Einschätzung ist weder für das Recto noch für das Verso des beidseitig bezeichneten Blattes nachvollziehbar. Auf den ersten Blick plausibler erscheint dagegen die 1963 in der Kunsthalle vorgenommene Einschätzung als Werk Guercinos. Nach Ansicht der Tagungsteilnehmer auf dem Hamburger Symposium 2005 ist jedoch auch diese Einordnung – trotz einer partiell ähnlichen Laviertechnik – nicht überzeugend.(Anm. 1) Einhellig wurde eine Entstehung im 18. Jahrhundert angenommen, wobei denkbar erscheint, dass der anonyme Künstler in stilistischer Hinsicht Giovanni Battista Tiepolo rezipiert hat. Hierfür sprechen nicht nur die Lockerheit der Umrissführung und die sicher gesetzte Lavierung. Zudem erinnert der Kopf des Kindes an Christus-Darstellungen, wie sie Tiepolo mehrfach im größeren Zusammenhang von Sacra Conversazione-Szenen entwickelt hat. Nicht eindeutig zu bestimmen ist das dargestellte Sujet. Die Figur des Satyrs und die Nacktheit aller Personen sprechen für ein Thema aus der „heidnischen“ Lebenswelt. Diesem Themenkreis konträr entgegengesetzt zeigt das Verso mit der „Geburt Christi“ (oben, Detail) und der „Flucht nach Ägypten“ (Hauptszene) zwei herausragende Szenen aus der christlichen Ikonographie: Beide Darstellungen sind eindeutig beeinflusst von Albrecht Dürers um 1504 entstandenen Holzschnittserie mit Szenen aus dem „Marienleben“.(Anm. 2) Bei beiden Studien ging es dem „Kopisten“ lediglich um eine allgemeine, skizzenhafte Wiedergabe von Dürers Komposition. Bewusst wurden zahlreiche Details der Vorlagen vereinfacht oder ganz weggelassen (z. B. der Stab Josephs).
Trotz der für Recto und Verso feststellbaren relativ lockeren Zeichenweise ist aufgrund der unterschiedlichen Techniken schwer zu beurteilen, ob beide Studien von einem Künstler stammen.
Das Blatt veranschaulicht zusammen mit anderen Zeichnungen der Hamburger Sammlung die Auseinandersetzung italienischer Künstler mit der graphischen Kunst Albrecht Dürers.(Anm. 3) Dieses Phänomen lässt sich besonders in Nord- und Mittelitalien vor allem im 16. und in geringerem Maße auch im 17. Jahrhundert nachweisen. Für das 18. Jahrhundert liegen offensichtlich noch keine genaueren Untersuchungen vor, wobei anzunehmen ist, dass der Einfluss Dürers damals gering war. Vor diesem Hintergrund gewinnt die wenig bedeutende Verso-Skizze an Interesse, könnte es sich hier um eines der wenigen bislang bekannten Beispiele einer Dürer-Rezeption in Italien im 18. Jahrhundert handeln. Für eine Datierung in diesen Zeitabschnitt spricht vor allem der relativ lockere Umgang mit dem berühmten Vorbild. Hierin würde der anonyme Zeichner eine Entwicklung fortsetzen, die spätestens im frühen 17. Jahrhundert einsetzt. So übernahm z. B. Giulio Benso für sein Liebespaar das Dürer-Vorbild, doch hat er es auf eigene Weise malerisch interpretiert (vgl. Inv.-Nr. 1984-19).

David Klemm

1 Andrea Czére wollte lediglich in der Art der Lavierung geringe Reminiszenzen an Guercino erkennen.
2 Vgl. Rainer Schoch, Matthias Mende, Anna Scherbaum: Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, Bd. 1: Kupferstiche, Eisenradierungen und Kaltnadelblätter, München, London, New York 2001, Nr. 179. Im oberen Bildfeld ist ein Detail aus der „Geburt Christi“ („Anbetung der Hirten“), ebenfalls aus dem „Marienleben“, wiedergegeben.
3 Vgl. z. B. Inv.-Nr. 52296, 21537, 52001.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun, braun laviert 209mm x 240mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1963-749 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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