Pier Leone Ghezzi (Nachahmer)

Ein italienischer Konditor preist Ware an

Pier Leone Ghezzi (1674–1755) zählt zu den fruchtbarsten Zeichnern des 18. Jahrhunderts. Neben zahlreichen Entwürfen für sein umfangreiches Gemälde- und Freskenwerk schuf er ein unvergleichliches Konvolut von Tausenden von Porträtzeichnungen. Meinolf Trudzinski hat die Charakteristik dieser insgesamt sehr ähnlichen Zeichnungen treffend analysiert.(Anm. 1) So weisen die Blätter stets parallele Schraffierungen auf, worin eine Verwandtschaft zu den Graphiken der sogenannten Maratta-Stecher erkennbar ist. Die mehr oder weniger dichte Struktur dieser Schraffuren erzeugt Licht und Schatten, wobei der Lichteinfall bei Ghezzi zumeist von links eintritt. Die Gesichter werden lediglich umrisshaft wiedergegeben. Sie sind stets ins Profil gerückt.
Gattungsmäßig lassen sich diese Porträts unter dem Begriff Karikaturen einordnen. Dabei zeichnet Ghezzi zumeist komisch, bisweilen auch ironisierend, aber niemals wirklich verletzend. Hierin ähnelt seine Auffassung von Karikatur derjenigen von Giovanni Battista Tiepolo (vgl. Inv.-Nrn. 52206-52208). Mit dieser so treffenden wie liebenswürdigen Form der Porträtdarstellung erfreute sich Ghezzi beim römischen Adel, bei den durchreisenden Gästen, bei Malern, Architekten und Musikern größter Beliebtheit. Dankschreiben einiger Porträtierter sind erhalten. Völlig verdient erhielt der Künstler bereits zu Lebzeiten den Titel „Cavaliere delle caricature“. Ob man ihn allerdings, wie es Gerd Unverfehrt tat, als ersten Berufskarikaturisten bezeichnen kann, ist angesichts der Forschungslage schwer zu entscheiden.(Anm. 2)
Auch das Hamburger Blatt mit der Darstellung eines Konditors, der Waren anpreist, fügt sich auf den ersten Blick überzeugend in das bekannte Schema der Ghezzi-Zeichnungen. Die Zeichnung gelangte bereits unter der Zuschreibung an Ghezzi in die Sammlung und wurde seither unter diesem Namen abgelegt. Vergleichbare Berufsdarstellungen von Handwerkern und Lebensmittelproduzenten lassen sich vereinzelt nachweisen. So finden sich in Dijon die Darstellungen eines „Speisemeisters“(Anm. 3) sowie eines „Küfers“(Anm. 4).
Trotz dieser zunächst eindeutigen Zugehörigkeit zum Corpus der Ghezzi-Zeichnungen ergibt eine genauere Analyse einige Unstimmigkeiten. Zunächst ist auffallend, dass die Figur des Konditors in Haltung und Kleidung exakt einem Arzt auf einer Karikatur im Vatikan entspricht.(Anm. 5) Auf diesem Blatt sind aber ein anderer Tisch und eine Art Brennofen mit Destillierflasche um die Figur angeordnet. Es ist nicht auszuschließen, dass Ghezzi angesichts seiner immensen Produktion derartiger Blätter auch einmal auf ein vorformuliertes Motiv zurückgegriffen hat. Allerdings scheint ein solches Verfahren der exakten Wiederholung einer Hauptfigur in einem anderen Zusammenhang in seinem Werk bislang die Ausnahme zu sein. Auffallend ist auch, dass die Figuren bei allen Ähnlichkeiten der Strichführung unterschiedlich sind. So wirken bei dem für Ghezzi eindeutig gesicherten Blatt im Vatikan die durch die Schraffuren erzeugten Schatten überzeugender. Beim Hamburger Blatt sind diese von der Umgebung zum Teil gar nicht zu unterscheiden. Die Andeutung des Fußbodens auf dem Hamburger Blatt ist für Ghezzi zu schematisch und auch das sehr feste Papier ist ungewöhnlich.
Diese Indizien machen es wahrscheinlich, dass hier keine originale Zeichnung Ghezzis vorliegt, sondern im besten Fall die Wiederholung einer ansonsten nicht nachweisbaren Darstellung eines Konditors. Nicht auszuschließen ist, dass hier eine bewusste Nachahmung oder sogar Fälschung vorliegt. Eine derartige Annahme ist insofern nahe liegend, als es weltweit eine Vielzahl von Blättern gibt, die mit Ghezzi mehr oder weniger eng verbunden werden können. Bis heute fehlt eine genauere Analyse seines Œuvres, das auf weit über 3000 Zeichnungen geschätzt werden kann.(Anm. 6)

David Klemm

1 Die italienischen und französischen Handzeichnungen im Kupferstichkabinett der Landesgalerie, bearb. v. Meinolf Trudzinski, Hannover 1987, S. 74.
2 Ebd.
3 Dijon, Musé des Beaux-Arts, Inv. Alb. TH A3 fo 5; Collections du Musée des Beaux-Arts de Dijon. Catalogue des dessins italiens, bearb. v. Marguerite Guillaume, Ausst.-Kat. Musée des Beaux-Arts de Dijon, Dijon 2004, S. 106, Nr. 165. Diese sind allerdings technisch anders ausgeführt.
4 Inv. Alb. TH A3 fo 6; Collections du Musée des Beaux-Arts de Dijon. Catalogue des dessins italiens, bearb. v. Marguerite Guillaume, Ausst.-Kat. Musée des Beaux-Arts de Dijon, Dijon 2004, S. 107, Nr. 166.
5 Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, fol 6, 260/8.
6 So besitzt der Vatikan allein mehr als 1500 Zeichnungen. Vgl. die Aufzählung bei Die italienischen und französischen Handzeichnungen im Kupferstichkabinett der Landesgalerie, bearb. v. Meinolf Trudzinski, Hannover 1987, S. 74. Eine hervorragende Aufarbeitung erfuhren bislang nur die zahlreichen Musikerporträts der Biblioteca Apostolica Vaticana. Vgl. Giancarlo Rostirolla: Il “Mondo novo” musicale di Pier Leone Ghezzi. Con Saggi di Stefano La Via e Anna Lo Bianco, L’arte armonica 4, 2, Iconografia e cataloghi, Mailand 2001.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun 308mm x 198mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1963-194 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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