Polidoro Caldara, gen. Polidoro da Caravaggio (Umkreis)

Religiöse Szene mit Gnadenstuhl, trauernder Maria und einem knienden Heiligen (?)

Die Zeichnung ist vor allem durch eine sehr flächige Lavierung und fließende Konturen charakterisiert. Christel Thiem dachte per Kartonnotiz an Bernardino India, doch fehlen Merkmale seines Stils, z. B. die typischen Locken und Knopfaugen. Zudem wurden – ebenfalls per Kartonnotiz – Marco Pino (unter Vorbehalt von Rhoda Eitel-Porter) und Francesco Carracci (anonyme Notiz) vorgeschlagen. Hugo Chapman fühlte sich an Polidoro da Caravaggio erinnert, sodass für ihn eine Entstehung in dessen Umfeld denkbar erscheint.(Anm.1) In diese Richtung zielte – unabhängig davon – auch Simonetta Prosperi Valenti Rodinò, die Züge Polidoros z. B. in den Gesichtern der Mitglieder der Gruppe unten links erkannte.(Anm.2) Eine Einordnung des Blattes in den Umkreis bzw. die Nachfolge Polidoros scheint daher sinnvoll.
Das Blatt weist eine in der italienischen Kunst sehr seltene Ikonographie auf. Die Hauptgruppe im oberen Bereich zeigt Gottvater, der den toten Christus auf seinen Knien hält. Um diese Gruppe herum sind zahlreiche Putti angeordnet, von denen einige die Leidenswerkzeuge Christi tragen. Im irdischen Bereich sind um die zusammengesunkene Maria mehrere Personen und rechts ein fast nackter, kniender Mann zu erkennen. Er schaut zur himmlischen Zone hinauf. Links oberhalb von ihm ist ein mit der Spitze nach unten weisendes Schwert erkennbar.
Die Komposition vereint demnach drei verschiedene Themenkreise: Die Beweinung des toten Christus durch seine Verwandten und engsten Vertrauten, die Fürsorge des Verstorbenen durch Gottvater sowie das Verhältnis eines Menschen zur himmlischen Sphäre. Eine derartige Kombination ist höchst ungewöhnlich. Wahrscheinlich kommt hier eine private Andachtsfrömmigkeit zum Ausdruck.
Von besonderem Interesse ist die Darstellung von Christus auf dem Schoß von Gottvater. Vergleicht man die Komposition mit Dürers berühmtem Kupferstich (Anm.3), so fällt auf, dass Gottvater bei diesem würde- und machtvoller erscheint. Dies liegt auch an der Bekrönung in Form einer Tiara, die auf dem Hamburger Blatt fehlt. Ungewöhnlich ist hier auch das körperliche Verhältnis von Gottvater zu Christus: Während dieser bei Dürer den Körper Christi vor sich hält, wird in der vorliegenden Variante durch das sehr ungewöhnliche Herüberziehen des linken Beines von Christus eine andere, verschlungenere Bildlösung gefunden. Zudem sind die Dürerschen Engel auf der Zeichnung durch Putti ersetzt. Als möglicher Schritt zwischen Dürer und dem anonymen Zeichner könnte Giorgio Ghisis Komposition angesehen werden.(Anm.4) Ähnlich ist Gottvater gestaltet, wohingegen die Sitzposition von Christus unterschiedlich ist.
Eine interessante Übereinstimmung in manchen Details des oberen Bereichs der Hamburger Zeichnung weist ein nach 1601 entstandener Kupferstich von Jacob Matham auf.(Anm.5) Vor allem die Anordnung von Gottvater und Christus sowie der umgebenden Engel mit den Passionswerkzeugen ist motivisch ähnlich. Es bestehen jedoch deutliche stilistische Unterschiede.

David Klemm

1 Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 28. 3. 2008.
2 Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 18. 1. 2008.
3 The Illustrated Bartsch 10 (7), 122 (141).
4 The Illustrated Bartsch 31 (15), 14 (391).
5 Widerkehr 2008, S. 210–211, Nr. 451.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun, braun laviert; aufgezogen 225mm x 171mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1963-110 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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