Philipp Otto Runge

Selbstbildnis am Zeichentisch, 1801/02

Neben dem Selbstbildnis für Goethe (Anm. 1) gehört das Hamburger Selbstbildnis am Zeichentisch zu den intensivsten Selbstbefragungen Runges. Für Traeger ist das Blatt „ein Höhepunkt in der Handhabung der weich modellierenden Kreidetechnik auf getöntem Papier, die Hardorff von der Dresdener Casanova-Schule an Runge vermittelt hatte.“ (Anm. 2) Traeger hat auch die „zeichnerische Sicherheit“ gegenüber den früher entstandenen Portraits betont, weshalb er wegen einer „gewissen Sachlichkeit im Ausdruck“ an eine Entstehung in der frühen Dresdener Zeit denkt, als Runge auch mit Anton Graff verkehrte. Tatsächlich verwendet Runge in der Kopfwendung, mit der er über seine linke Schulter sich dem Betrachter zuwendet, eine barocke Pathosformel, die er ähnlich auf Bildnissen Graffs kennengelernt hatte, doch geht sein Selbstbildnis in seiner Nüchternheit und offenen Selbstbefragung über barocke Portraits hinaus. Die Präsentation des Zeichenstiftes und die zugehörige Handhaltung gehen dagegen direkt auf Hardorffs 1788 entstandenes Selbstbildnis zurück (Anm. 3), das Runge sicher kannte.
Während Traeger eine Datierung in die frühe Dresdener Zeit – ins zweite Halbjahr 1801 bzw. Anfang 1802 – für wahrscheinlich hält, ist die Entstehungszeit des Bildnisses in der übrigen Literatur umstritten. Böttcher hatte eine Entstehung in Wolgast im Frühjahr 1801 angenommen (Anm. 4), Isermeyer hingegen erwog die Identität mit jenem idealen Selbstbildnis, das die Kritik Herterichs und Hardorffs hervorgerufen hatte (Anm. 5), während Bruhns eine Entstehung erst „1804 oder 1805“ vermutete (Anm. 6), wofür es allerdings keine Anhaltspunkte gibt. Zuletzt hat Fleckner unter Verweis auf das verschollene, nur in einer Abbildung bekannte Selbstbildnis aus Stettin (Anm. 7) für eine frühere Entstehung bereits in Kopenhagen um 1800 plädiert, da beide Bildnisse „in direkter Folge, im direkten wechselseitigen Bezug aufeinander“ entstanden seien (Anm. 8). Das bisher in den November 1799 datierte, spontane Stettiner Selbstbildnis habe Runge im Hamburger Bildnis gleichsam in eine beruhigtere Version überführt, in der die Figur „harmonischer, aber eben auch konventioneller ins Bildformat eingebunden“ (Anm. 9) sei. Tätsächlich gibt es Ähnlichkeiten in der Art der Selbstinszenierung, vor allem in der Kopfwendung und der Frisur, die letztlich auf Bildnisse Alexander des Großen zurückgeht, doch zeigt das Stettiner Bildnis, das in seiner zeichnerischen Ausarbeitung aufgrund der unzureichenden Abbildung nicht eindeutig zu beurteilen ist, offensichtlich noch nicht die verfestigte zeichnerische Struktur des Hamburger Blattes, das eine strengere Plastizität offenbart. Das aus dem Besitz der in Pleetz verheirateten Schwester Ilsabe stammende Blatt wird mit jenem kleinen Selbstbildnis identifiziert, dass Runge in einem Brief vom Januar 1802 an seinen Vater erwähnt: „Dann erfolgt auch mein Bildniß; wenn Ihnen dies besser gefällt, als das kleine, welches Sie von mir haben, so schicken Sie jenes nach Pleetz, sonst dieses.“ (Anm. 10) Traeger hat vermutet, dass es sich bei dem sich bereits im Besitz des Vaters befindlichen Bildnis um das Stettiner Portrait, während es sich bei dem neuen, Ende Januar 1802 übersandten Bildnis um das Hamburger Blatt handele. Sicher ist eine solche Identifizierung allerdings nicht, zumal Daniel bei der Besprechung von Kreidebildnissen für Freunde und Verwandte erwähnt, dass in den Jahren 1797 bis 1802 Runge „sein eignes Gesicht […] auch oft zur Uebung“ diente (Anm. 11). Es existierten offensichtlich mehrere heute nicht mehr bekannte Selbstportraits, weshalb die Identifizierung mit dem an den Vater Ende Januar gesandten Bildnis hypothetisch bleibt.

Peter Prange

1 Selbstbildnis für Goethe, schwarze Kreide, 362 x 255 mm, Klassik Stiftung Weimar, Goethe-Museum, Inv. Nr. Sch. I 298, 766, vgl. Traeger 1975, S. 400, Nr. 345, Abb.
2 Traeger 1975, S. 322.
3 Gerdt Hardorff, Selbstbildnis mit aufgestütztem Kopf, Feder in Braun, 200 x 165 mm, Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 23358, vgl. Vagt 1984, S. 169, Nr. 1.
4 Böttcher 1937, S. 290.
5 Isermeyer 1940, S. 126. Zu Herterichs und Hardorffs Kritik vgl. HS II, S. 112-114.
6 Bruhns 1957, S. 77.
7 Selbstbildnis, schwarze und weiße Kreide auf gelbbraunem Papier, 240 x 190 mm, ehem. Stettin, Pommersches Landesmuseum, vgl. Traeger 1975, S. 271, Nr. 88, Abb.
8 Fleckner 2013, S. 120-121.
9 Fleckner 2013, S. 121.
10 Brief vom 27. Januar 1802 an den Vater, vgl. HS II, S. 110.
11 HS I, S. 368.

Details zu diesem Werk

Schwarze und weiße Kreide auf braunem Papier; montiert 553mm x 433mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Leihgabe der Ernst von Siemens Kunststiftung Inv. Nr.: 1950-150 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford und Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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