Philipp Otto Runge

Bildnis einen unbekannten jungen Mannes, um 1799

Laut Stubbe 1960 und Traeger 1975: Bildnis des Bruders Gustav

Ende Juli 1799 berichtet Runge, dass er einige Bildnisse von Freunden und Familienangehörigen in Arbeit hat: „Den Besser habe ich noch nicht gemacht [vgl. Inv. Nr. 1939-21], du must dir nur vorstellen, daß je länger es dauert, je besser es wird, wenigstens ist es bis itzt zu meinem großen Trost so gewesen, Papa u. Mama Claudius und Gustav hab ich schön gemacht […].“ (Anm. 1) Das von Runge erwähnte Bildnis Gustavs identifizierte Stubbe mit dem vorliegenden Bildnis, in dem er das“ mehr in sich gekehrte Wesen unseres Jüngsten Bruders Gustav“ (Anm. 2) zu erkennen glaubte. Gustav war im Frühjahr 1798 als Lehrling zu Perthes nach Hamburg gekommen, doch bereits im August 1799 nach Hause zurückgekehrt, da ihm der Buchhandel als zu „arbeits- und drangsalvoll“ (Anm. 3) erschien. Stubbes Vergleich mit einer Tuschsilhouette (Inv. Nr. 56407), auf der Runge Gustav als achtjährigen Knaben im Profil darstellte (Anm. 4), kann allerdings nichts zur Identifizierung des Dargestellten beitragen (Anm. 5); hingegen zeigt der Vergleich mit den Bildnissen der Familie Runge auf dem letzten Entwurf zur „Heimkehr der Söhne“ (vgl. Inv. Nr. 34128) eine ausgesprochene Familienzugehörigkeit. Laut Daniels Beschreibung der Komposition erscheint Gustav rechts von dem durch seine Eltern begrüßten Daniel in der Mitte des Blattes; Gustavs Kopf „mit der energisch betonten Nase lässt sich trotz der idealisierten Dämpfung des Details und unbeschadet der Harmonisierung aller Maßverhältnisse an die Anatomie des Kopfes unserer Zeichnung anschließen“. (Anm. 6) Stubbe vermutet, dass Gustav Runge sein Bildnis der Familie Perthes zum Geschenk machte, als er im August 1799 die Buchhandlung verließ und wieder nach Wolgast zurückkehrte (Anm. 7). Dies würde die Herkunft aus dem Familienbesitz Perthes erklären.
Außer Daniels Beschreibung und Runges Brief gibt es keine weiteren Hinweise für die Identifizierung des Bruders Gustav. Böttcher hatte 1937 ein Photo einer Kreidezeichnung veröffentlicht, die er kommentarlos als das Bildnis Gustavs bezeichnete (Anm. 8), von dem Traeger jedoch vermutete, es könne sich um das Bildnis des Johann Friedrich Wülffing handeln (Anm. 9). Der Identifizierung Böttchers hat sich jüngst allerdings Stolzenburg angeschlossen, der in dem verlorenen Bildnis ebenfalls Gustav, und in der vorliegenden Zeichnung das Bildnis eines unbekannten Mannes erkennt, dessen Zugehörigkeit zur Familie Runge nicht sicher sei (Anm. 10).
Der physiognomische Vergleich kann indes nicht überzeugen. Gustavs Bildnis auf der Kompositionsstudie zur „Heimkehr der Söhne“ zeigt kaum Ähnlichkeiten mit dem verschollenen Bildnis, vor allem der sich vorwölbende Mund in der etwas pausbäckigen Physiognomie fehlt bei Gustav, dessen Antlitz auf der „Heimkehr der Söhne“ mehr der vorliegenden Zeichnung entspricht. Auch der Hinweis, dass „das Bildnis durch das wesentlich kleinere Format des Papiers, dessen Einfügung in das Oval eines Medaillons sowie die alleinige Verwendung von schwarzer Kreide ohne jegliche Weißhöhungen“ aus der Gruppe der großformatigen Bildnisse herausfällt (Anm. 11), die Runge für die „Heimkehr der Söhne“ anfertigte, suggeriert, dass Gustavs Bildnis in diesem Zusammenhang entstand, was aus Runges Brief aber nicht hervorgeht. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass Gustavs Bildnis davor in der ersten Jahreshälfte 1799 entstand, als Runge bei Hardorff zahlreiche Portraits von Familienangehörigen und Freunden ausführte. Das für Runges Bildnisse ungewöhnliche Oval, das in der Bildnistradition des ausgehenden 18. Jahrhunderts steht, findet sich bei Hardorff wiederholt, besonders auf zwei Bildnissen, die Böttcher als Werke Runges publizierte (Anm. 12), von Traeger jedoch Hardorff zugeschrieben wurden (Anm. 13). Der Zusammenhang mit Hardorffs Bildniskunst dürfte nicht nur für die Wahl des Formats, sondern auch die stilistische Nähe zu den beiden erwähnten Bildnissen erklären.

Peter Prange

1 Brief vom 31. Juli 1799 an Karl, vgl. Philipp Otto Runge. Briefe in der Urfassung, hrsg. von Karl Friedrich Degner, Berlin 1940, S. 31-32.
2 Vgl. HS II, S. 449.
3 Vgl. HS II, S. 450.
4 Stubbe 1960, S. 57, Abb. 4.
5 Stubbe 1960, S. 57.
6 Stubbe 1960, S. 57.
7 Stubbe 1960, S. 58.
8 Otto Böttcher: Philipp Otto Runge. Sein Leben, Wirken und Schaffen, Hamburg 1937, S. 301, Taf. 40.
9 Bildnis Johann Friedrich Wülffing (?), schwarze und weiße Kreide auf dunklem Papier, 520 x 400 mm, verschollen, vgl. Traeger 1975, S. 255, Nr. 53, Abb.
10 Stolzenburg 2012, S. 152.
11 Stolzenburg 2012, S. 152.
12 Böttcher 1937, S. 303, Taf. 61.
13 Gerdt Hardorff zugeschrieben, Bildnis eines jungen Mannes, Aquarell über Kreide, 208 x 176 mm, Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 1928-186, vgl. Traeger 1975, S. 488, Nr. XXV; Gerdt Hardorff zugeschrieben, Bildnis eines Jünglings, Aquarell über Kreide, 194 x 169 mm, Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 1928-185, vgl. Traeger 1975, S. 488, Nr. XXVI.

Details zu diesem Werk

Schwarze Kreide auf bräunlichem Papier; fest montiert auf Karton 436mm x 340mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1939-23 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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