Philipp Otto Runge

Bildnis eines unbekannten Mannes (Johann Friedrich Wülffing?), 1799

Laut Stubbe 1960 und Trager 1975 Bildnis des Bruders Johann Daniel

Bevor Runge Mitte Oktober 1799 nach Kopenhagen an die Akademie ging, entstand in Hamburg eine erstaunliche Anzahl von Portraits von Personen aus seiner Familie und aus seinem Freundeskreis (Anm. 1). Daniel schreibt rückblickend, „daß seine Freundlichkeit ihn bewogen haben muß, besonders im Anfange seiner Künstlerlaufbahn eine Unzahl von Bildnissen in den Kreisen von Verwandten und Freunden, in welchen er sich an mehreren Orten nach einander befunden, in Kreide zu zeichnen, von welchen auch viele sich erhalten haben werden. So schon von 1797 an und in den beiden folgenden Jahren in Hamburg […]; 1799 und 1801 in Wolgast, vornämlich Bildnisse, die er für das, damals noch in Gedanken habende große Familiengemählde zu benutzen meynte; 1800 in Kopenhagen; 1801 und 1802 in Dresden.“ (Anm. 2) Während Runges übrige Zeichnungen dieser Zeit durchaus noch dilettantische Züge offenbaren, sind es die Bildniszeichnungen, die sein zeichnerisches Talent verraten. Welche Bedeutung Runge ihnen in jener Zeit für seine eigene künstlerische Entwicklung gab, belegt ein Brief an seine Mutter von Mitte August 1799: „Wie sonderbar es aber ist, Liebe Mutter, jemands Portrait zu zeichnen, das glauben Sie nicht; es ist, als wenn man den Menschen so vor sich hätte und fühlte ihm mit dem Crayon im Gesicht herum; wo es tiefer hineingeht fühlt man öfter zu und so ist es am Ende fertig, man lernt der Leute Gesicht so recht kennen, und dann, wenn ich es fertig habe, kann ich sitzen und sehen mein Machwerk eine Stunde an und zuletzt wird mir’s zum Ekel, ich kann es dann nicht ausstehen, daß noch die Striche da sind., ich möchte es gern so klar vor mir haben, daß das leidige Gemachte daran nicht zu sehen wäre und daß lässt mir keine Ruhe, bis ich was Besseres gemacht habe.“ (Anm. 3)
Am 16. Oktober 1799, zwei Tage vor seiner Abreise nach Kopenhagen, schrieb Runge an seinen Bruder Karl, dass Johann Heinrich Besser „sein, Dan[iels] und Wülffings Portrait mit nach Leipzig genommen [habe] um erst Enoch [Richter] eine Freude damit zu machen und sie dann nach Wolgast zu schicken.“ (Anm. 4) Die Identifizierung von Bessers Bildnis und seine Entstehung 1799 ist durch die Beschriftung Daniels gesichert (Anm. 5); es dürfte im August entstanden sein, da Runge Ende Juli „den Besser […] noch nicht gemacht“ (Anm. 6) hatte. Daniels Bildnis war am 20. September 1799 vollendet: „- - Daniel’s Bild habe ich fertig; es ist nach meiner Meynung und der Aussage von Kennern das beste, was ich der Zeit geliefert; die Nichtkenner sagen freylich noch mehr, aber ich weiß es am besten, wie es bey mir aussieht.“ (Anm. 7) Über das Bildnis von Johann Friedrich Wülffing, Teilhaber in Daniels Speditionsfirma, gibt es keine Nachrichten, doch ist anzunehmen, dass es zusammen mit den beiden anderen oder unmittelbar davor bzw. danach bis zum 16. Oktober entstand.
Isermeyer hatte die Entstehung von Daniels Portrait ausdrücklich im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wandgemälde „Die Heimkehr der Söhne“ angenommen (Anm. 8), doch ist die Entstehung bereits Mitte 1799 vor der Abreise nach Kopenhagen wahrscheinlich. Das zusammen mit Bessers Bildnis annähernd gleiche Format, der gemeinsame Typus des Brustbildes in Dreiviertelprofil und nicht zuletzt die Verwendung der weichen Kreide und des farbigen Papiers lassen beide Bildnisse als gespiegelte Pendants erscheinen, in denen die Schulung durch Hardorff immer noch anklingt. Sie verdeutlichen Runges rasche Entwicklung zu einer malerischen Zeichentechnik, die durch die wirkungsvoll eingesetzte Weißhöhung und die seitliche Beleuchtung die Gesichtszüge plastisch herausarbeitet.
Das Blatt, das Möller 1935 erstmals publizierte, befand sich bis zum Ankauf durch die Kunsthalle im Besitz direkter Nachkommen des Künstlers und galt dort schon immer als Bildnis des Bruders Daniel. Die Runge-Literatur ist dieser Identifikation gefolgt, auch wenn Stubbe bereits bemerkte, dass „die kräftigen, fülligen Züge und der Ausdruck von Entschlossenheit“ auf den anderen Bildnissen nicht wiederkehren (Anm. 9). Die Unterschiede zwischen dem frühen und den späteren Bildnissen erklärte man damit, dass die kräftigen Züge Daniels „noch nicht von den geschäftlichen Sorgen geprägt“ scheinen (Anm. 10). Zuletzt ist die Identität des Dargestellten mit Daniel allerdings in Zweifel gezogen worden (Anm. 11); tatsächlich ist mit dem Daniel, der auf dem letzten Entwurf zur „Heimkehr der Söhne“ (vgl. Inv. Nr. 34128) im Profil zwischen Vater und Mutter erscheint, keine unmittelbare Ähnlichkeit erkennbar. Stolzenburg schlägt stattdessen die Identifizierung mit dem von Runge ebenfalls erwähnten Bildnis des Johann Friedrich Wülffing vor, was zur Konsequenz hätte, dass Daniels Bildnis als verschollen gelten müsste (Anm. 12).

Peter Prange

1 Vgl. Traeger 1975, 251-255, Nr. 40-53.
2 Vgl. HS I, S. 368.
3 Brief vom 14. August 1799 an die Mutter, vgl. HS II, S. 12-13.
4 Brief vom 16. Oktober 1799 an Karl, vgl. Philipp Otto Runge. Briefe in der Urfassung, hrsg. von Karl Friedrich Degner, Berlin 1940, S. 33.
5 Bildnis Johann Heinrich Besser, schwarze und weiße Kreide auf braunem Papier, 500 x 569 mm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, SZ 33, vgl. Traeger 1975, S. 254, Nr. 51, Abb.
6 Brief vom 31. Juli 1799 an Karl, vgl. Degner 1940, S. 31.
7 Brief vom 20. September 1799 an Marie, vgl. HS II, S. 32.
8 Isermeyer 1940, S. 126, Nr. 7.
9 Stubbe 1960, S. 61.
10 Traeger 1975, S. 255.
11 Stolzenburg 2012, S. 155.
12 Das Bildnis, für das Traeger 1975, S. 255, Nr. 53, vorsichtig als Dargestellten Wülffing annahm, hält Stolzenburg für ein Bildnis des Bruders Gustav, vgl. Stolzenburg 2012, S. 151.

Details zu diesem Werk

Schwarze und weiße Kreide auf braunem Papier; fest montiert auf Karton 480mm x 363mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1939-21 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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