Philipp Otto Runge, Zeichner
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder

Kopf der Mutter des mondsüchtigen Knaben (Detailkopie nach dem Gemälde der Verklärung Christi Raffaels "Transfiguration"), Juli 1801

Insgesamt sechs Zeichnungen Philipp Otto Runges nachverschiedenen Köpfen aus Raffaels Verklärung Christi haben sich erhalten. (Anm.1) Solche Detailkopien nach Hauptwerken Alter Meister sind keine Ausnahme, sondern Runge pflegte diese Übung häufiger, wie seine Zeichnungen nach den Cäcilienfresken Domenichinos (Anm. 2) und eine Zeichnung mit raffaelischem Motiv nach einem Blatt aus dem Receuil Crozat belegen. (Anm. 3) Aus dem Receuil Crozat befanden sich 80 Blatt im Nachlass von Runges Lehrer Gerdt Hardorff d. Ä.
In der Forschung wurde zunächst angenommen, dass Runge den großformatigen Stich des Nicolas Dorigny von 1705 (Inv.-Nr. 19356) als Vorlage genommen hat. (Anm. 4) Jörg Traeger brachte damit jedoch zu Recht einen Brief Runges an Johann Wolfgang von Goethe vom 23. August 1801 in Zusammenhang, in dem dieser aus Dresden schreibt: „Auch die Köpfe, so von Casanova noch nach Raffael auf der Akademie sind, habe ich fleißig gezeichnet. Herr Hartmann (Anm. 5) war so gut, mir dann und wann seine Meinung über die Weise zusagen, wie ich die Sache anwende.“ (Anm. 6) Casanovas heute verschollene Zeichnungen nach Details der Verklärung Christi, die denselben Zweck erfüllten, wie kurz darauf die Kupferstiche in Punktiermanier von Giovanni Folo nach den Zeichnungen Vincenzo Camuccinis (Inv.-Nr. 2020-24-14), dienten hier also als direkte Vorlage für Runges Studium. Sie wurden u. a. auch noch 1803 von dem befreundeten Friedrich August von Klinkowström an der Akademie in Dresden kopiert. (Anm. 7) Philipp Ottos Bruder Daniel datierte die Zeichnungen nach der Verklärung Christi auf Juli 1801, was mit Runges Ankunft in Dresden am 21. Juni 1801, wo er Kontakte zur Akademie aufnahm, ohne deren Schüler zu werden, und dem Brief an Goethe übereinstimmt.
Runge wählte neben der Rückenfigur der Mutter (Inv.-Nr. 1938-79), dem Besessenen mit der Frau (Inv.-Nr. 1938-78) und dem Vater (Anm. 8) noch zwei Apostel (Inv. Nr. 1938-80), den Kopf eines Apostels am linken Rand der Komposition (Anm. 9) sowie den Kopf eines Mannes, der zwischen den beiden Frauen, der auf graphischen Wiedergaben wie z. B. von Nicolas Dorigny, kaum zu erkennen ist. (Anm. 10) Natürlich war die Motivwahl durch die vorhandenen Casanova-Zeichnungen nicht ganz frei, dennoch wählte Runge – sich vielleicht an Lavaters physiognomische Studien erinnernd – anscheinend besonders ausdrucksstarke, dramatisch wirkende Köpfe aus, die er schon in seinen frühen Studien von Kriegern bevorzugt hatte.
Runge selbst äußerte sich in einem Brief an seinen Bruder Daniel in Hamburg vom Oktober 1801 schlussendlich negativ über den klassizistischen Maler Casanova und es ist wohl auch anzunehmen, dass das von ihm in Dresden gepflegte Kopieren nach Zeichnungen oder auch Stichen ihn fortan nicht mehr befriedigte, da man so lediglich das „recht hübsch[e]“ Zusammensetzen von Figuren erlernen könne, was die meisten – aber eben nicht Philipp Otto Runge – dann für „das Große der Kunst“ hielten. (Anm. 11)
Andreas Stolzenburg

LIT (Auswahl): Aukt.-Kat. Leipzig, C. G. Boerner 1938, S. 15, Nr. 133; Ausst.-Kat.
Hamburg 1960, S. 10, Nr. 50; Traeger 1975, S. 26, 320, Nr. 217b; Ausst.-Kat.
Hamburg 2010, S. 382, Nr. 18; Klemm/Stolzenburg 2010, S. 14; Klemm 2010, S.
68, 70, Abb.

1 Traeger 1975, S. 319–320, Nr. 217a–f. Der Verfasser dankt Peter Prange, München, für seine Ausführungen in der Online-Datenbank der Hamburger Kunsthalle, die für diesen Beitrag grundlegend sind; https://online-sammlung.hamburger-kunsthalle.de/de/objekt/1938-79 (Beitrag Peter Prange; letzter Aufruf: 29. 6. 2020).
2 Zu den Domenichino-Kopien siehe Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 1938-130 bis 1938-134; Trager 1975, S. 318, Nr. 216a–b, und e–f.
3 Inv.-Nr. 1938-136. Zur Kopie nach der Madonna del Paseggio vgl. Traeger 1975, S. 263, Nr. 78; https://online-sammlung.hamburger-kunsthalle.de/de/objekt/ 1938-136 (Beitrag: Peter Prange; letzter Aufruf: 29. 6. 2020). Vorbild war wohl der Stich von Nicolas de Larmessin III nach der Madonna del Passeggio, der sich im Recueil Crozat befindet. Aus ihm hat Runge die zentrale Figurengruppe der Madonna mit dem Jesus- und Johannesknaben herausgegriffen; vgl. Aukt.-Kat. Hamburg, Christian Meyer 1864, S. 29, Nr. 427; Aukt.-Kat. Hamburg, Christian Meyer 1864, S. 10, Nr. 75.
4 Wolf Stubbe, in: Ausst.-Kat. Hamburg 1960, S. 58, ihm folgend Berefelt 1961, S. 208, Anm. 1.
5 Zu Ferdinand Hartmann siehe Stolzenburg 2011.
6 Runge/Degner 1940, S. 55. Vgl. Traeger 1975, S. 319, Kommentar bei Nr. 217a–f.
7 Ausst.-Kat. Greifswald 2010, S. 210, Abb. auf S. 128. Möglicherweise kopierte Klinkowström partiell aber auch nach Runges Zeichnungen.
8 Inv.-Nr. 1938-82; Traeger 1975, S. 321, Nr. 217e.
9 Inv.-Nr. 1938-81; Traeger 1975, S. 320, Nr. 217d.
10 Inv.-Nr. 1938-83; Traeger 1975, S. 321, Nr. 217f.
11 Brief v. 6. 10. 1801; Runge 1841, S. 89–90.

Details zu diesem Werk

Schwarze Kreide 551mm x 397mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1938-79 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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