Philipp Otto Runge, Zeichner
nach Giovanni Marco Pitteri, Stecher
nach Giovanni Battista Piazzetta, Zeichner, Erfinder

Apostel Jakobus der Jüngere, um 1799

Als Runge noch im Kontor seines Bruders Daniel arbeitete, nahm er seit 1797 zunächst bei Heinrich Joachim Herterich und - nachdem Runge von seinen kaufmännischen Verpflichtungen nahezu vollständig entbunden worden war - seit September 1798 bei Gerdt Hardorff d. Ä. Zeichenunterricht, um seine Künstlerlaufbahn voranzubringen. Bei ihnen zeichnete Runge hauptsächlich nach Kupferstichen, wozu ihm vor allem die umfangreiche Kupferstichsammlung Hardorffs Gelegenheit bot. Frühe Belege dieser Tätigkeit sind insgesamt fünf Apostelköpfe, die auf Kupferstiche Marco Pitteris nach Vorlagen Giovanni Battista Piazzetts zurückgehen. Drei dieser Apostelköpfe befinden sich heute in Privatbesitz (Anm. 1), zwei im Besitz des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle.
1742 hatte Marco Pitteri das Privileg erhalten, eine Serie von 14 Köpfen nach Zeichnungen Piazzettas zu stechen (Anm. 2), wozu auch zwölf durchnummerierte Köpfe der Apostel gehörten. Inv. Nr. 1938-119 mit der Darstellung des Apostels Jakobus der Jüngere geht zurück auf Nummer VI (Anm. 3), Inv. Nr. 1938-118 mit der Darstellung des Apostels Simon auf Nummer X (Anm. 4). Pitteri hat von der Apostelfolge noch zusätzlich eine verkleinerte, unnummerierte Version herausgegeben (Anm. 5), weshalb nicht eindeutig zu entscheiden ist, nach welcher Folge Runge seine Kopien angefertigt hat. Das relativ große Format seiner Zeichnungen spricht allerdings dafür, dass ihm die größere Version vorlag.
Berefelt hatte noch angenommen, dass Runges Apostelköpfe auf van Dycks Apostelköpfe in Dresden zurückgehen, die Runge nach Zeichnungen Hardorffs angefertigt hätte (Anm. 6). Stubbe hat danach für Inv. Nr. 1938-118 Piazzetta als Vorlagengeber nachweisen können (Anm. 7), doch geht die endgültige ikonographische Bestimmung der Vorlagen auf Cornelia Vagt zurück (Anm. 8).
Pitteris Folge befand sich komplett in Hardorffs Besitz (Anm. 9), die Runge für seine Kopien benutzte. In ihrer malerischen Wirkung stehen sie in der Tradition ähnlicher Kreidezeichnungen (Anm. 10) Giovanni Battista Casanovas nahe, der Hardorffs Lehrer an der Dresdner Akademie war. Durch Hardorff wurde Runge mit dessen weicher, modellierender Zeichenweise vertraut, die durch die Wischungen, die laut der rückseitigen Beschriftung auf Inv. Nr. 1938-119 von Hardorff stammen, vor allem bei Simon in eine sfumatoartige Textur umgesetzt wird. Der hohen stecherischen Qualität Pitteris, die an Effekte der Schabkunst erinnert, vermag Runge in dem letztlich doch linearen Strichbild nicht gerecht zu werden; es hat den Anschein, als wollte Hardorff durch die Wischungen der Linearität Runges etwas von ihrer Strenge nehmen.
Pitteris Folge setzte verschiedene Physiognomien, aber auch Stimmungen und Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Antlitz ins Bild, die Runge die Möglichkeit gaben, seine Fähigkeiten zur Wiedergabe von Physiognomie und Ausdruck zu schulen. Angeregt wurde Runge zu diesen Studien sicher durch Hardorff, in dessen Sammlung sich nicht nur Pitteris Apostelfolge befand, sondern er selbst hat sich auch wiederholt mit dem Thema beschäftigt, doch ist nicht bekannt, ob seine Aposteldarstellungen ebenfalls nach Pitteri entstanden (Anm. 11).
Interessant sind Runges Kopien nach Piazzetta auch im Hinblick auf seine wenig später einsetzte Beschäftigung mit dem Werk Angelika Kauffmanns (vgl. Inv. Nr. 34252 und Inv. Nr. 1838-38). Diese hatte ebenfalls als ganz junge Künstlerin 1757 für eine Folge von Apostelköpfen in der Pfarrkirche von Schwarzenberg auf Pitteris Stiche zurückgegriffen (Anm. 12), und der Typus der Apostelköpfe nach Piazzetta prägte auch noch ihr spätes Gemälde „Lasset die Kindlein zu mir kommen“, von dem Runge 1798 eine Kopie anfertigte (vgl. Inv. Nr. 34252). Auch wenn die Verbindung zu Angelika Kauffmann in diesem frühen Stadium hypothetisch bleiben muss, könnte Runge durch Hardorff unter dem Hinweis auf Kauffmann zu den Kopien nach Piazzetta veranlasst worden sein.

Peter Prange

1 Apostel Paulus, schwarze und weiße Kreide, ca. 450 x 380 mm, Privatbesitz, vgl. Traeger 1975, S. 248, Nr. 34 a, Abb.; Apostel Bartholomäus, schwarze und weiße Kreide, ca. 450 x 340 mm, Privatbesitz, vgl. Traeger 1975, S. 248, Nr. 34 b, Abb.; Apostel Johannes, schwarze und weiße Kreide, ca. 430 x 360 mm, Privatbesitz, vgl. Traeger 1975, S. 248, Nr. 34 c, Abb.
2 Zur Entstehungsgeschichte der Folge vgl. Maria Agnese Chiari Moretto Wiel: L’eridità di Piazzetta. Volti e figure nell’incisione del Settecento, Ausst.-Kat. Venezia, Palazzo Ducale, Venedig 1996, S. 10.
3 Wiel 1996, S. 16, Nr. 16, Abb.
4 Weil 1996, S. 20, Nr. 20, Abb.
5 Weil 1996, S. 32-33, Nr. 35-50, Abb.
6 Berefelt 1961, S. 98, Anm. 3.
7 Stubbe 1974, S. 34.
8 Vagt 1984, S. 109.
9 Vagt 1984, S. 108. Sie befand sich auch in der Kupferstichsammlung Johann Michael Speckters, vgl. Verzeichniss der Kupferstichsammlung des Herrn J. M. Speckters in Hambg. Erste Abtheilung, Italienische und Englische Schule, welche Mittwochs, den 24. April 1822 in Leipzig im rothen Collegio öffentlich versteigert wird, S. 53, Nr. 801.
10 Entgegen Traeger 1975, S. 247, Nr. 32 und 33 handelt es sich auch bei Runges Blättern um Kreidezeichnungen.
11 Apostel Jacobus, Zeichnung, 400 x 300 mm, verschollen, vgl. Cornelia Vagt: Gerdt Hardorff d.Ä. und sein Werk. Monographie und Katalog, Diss. Univ. Kiel 1984, S. 230, Nr. 168; Apostel Petrus, braune und schwarze Kreide auf bräunlichem Papier, Maße unbekannt, verschollen, vgl. Vagt 1984, S. 230-231, Nr. 169.
12 Vgl. Angelika Kauffmann Retrospektive, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, hrsg. von Bettina Baumgärtel, Ostfildern/Ruit 1998, S. 106-109, Abb.

Details zu diesem Werk

schwarze Kreide 355mm x 286mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1938-119 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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