Philipp Otto Runge

Kresse (Pflanzenstudie), 1808

In seiner Auflistung der Blumenentwürfe erwähnt Daniel auch „mehrere Oelmalereyen, 1808 und 1809, von Blumen, zum Behuf von Stickereyen auf Stuhlpolster, für seine Nichte Wilhelmine Helwig […]. Der Herausgeber erinnert sich unter andern noch einer derselben, worauf mit sehr lebhaften Tönen eine weiße Calla Aethiopika mit einer Amaryllis vereinigt waren. Eine andre, die nur als Untermahlung fertig geworden, befindet sich in Hamburg; es ist eine Composition von Nasturien, wo immer jedes Blatt, jede Blume, und auch das Ganze selbst, ein Sechseck formirt; auch eine Federzeichnung davon.“ (Anm. 1) Die Zeichnung mit der Brunnenkresse dürfte mit der von Daniel erwähnten Federzeichnung identisch sein, doch ist sie entgegen Böttcher keine Studie für die Rahmenleiste des „Morgens“ (Anm. 2), sondern diente wie die beiden verschollenen Ölgemälde mit der Darstellung von Kresse (Anm. 3) sowie der Calla Aethiopica (Anm. 4) als Vorlagen für Stickmuster. Traeger hat auf einen Bericht von Pauline Scherping, einer Nichte von Wilhelmine Helwig, hingewiesen, dass das Gemälde mit der Calla Aethiopika ausdrücklich diesem Zweck diente, „damit sie genau die Farben danach auswählen konnte.“ (Anm. 5)
Das Hamburger Blatt gibt laut Daniel die verschollene „Composition von Nasturien, wo immer jedes Blatt, jede Blume, und auch das Ganze selbst, ein Sechseck formirt“, wieder. Ob das Blatt als Vorzeichnung für das verschollene Gemälde diente, muss offen bleiben, doch lassen sich auch bei der Zeichnung die einzelnen Blüten und die Gesamtheit der Pflanze in ein Sechseck einschreiben (Anm. 6). Runge entwickelt die Darstellung der Pflanze aus der zentralen Blüte, von der aus sich die Pflanze symmetrisch entwickelt ohne aber die natürliche Form der Pflanze zu verleugnen. Runge versucht nicht, die Pflanze „in ein Koordinatensystem geometrischer Formen einzuzwängen, sondern diese geometrischen Figuren aus der organischen Form der Pflanzen zu gewinnen, indem er sie gleichsam herausdestilliert.“ (Anm. 7) Dass Runge auch zum Gegenteil in der Lage ist, zeigt eine weitere, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Hamburger Kresseblatt entstandene Zeichnung mit Blüten und Blättern der Kresse in Frankfurt (Anm. 8). Die Ansichten der Blüten fügte Runge in ein Gerüst von geometrischen Linien ein, das sich als Fünfeck beschreiben lässt. In ihr erkundet Runge die „Architektonik“ der Blüte in Vorder-, Rück- und Seitenansicht. Auf diese Versicherung des Faktischen folgt die Komposition von der Kresse im Hamburger Blatt, in dem die aus den geometrischen Zeichnungen – Daniel nennt sie „geometrische Uebersichten“ (Anm. 9) – gewonnenen Erkenntnisse in ein „Bild“ von der Kresse transformiert werden, das „nach einem über die Natur hinausgehenden Symmetrieprinzip“ (Anm. 10) gestaltet ist, von der Natur abstrahiert und daraus seine künstlerische Eigenständigkeit bezieht.
Diese und andere Pflanzenstudien belegen das in dieser Zeit neu erwachte Interesse Runges, dem Aufbau des Pflanzenkörpers eine grundsätzliche Regelmäßigkeit zu unterstellen. 1809 hatte Runge an seinen Freund Klinkowström in Paris geschrieben: „Es freut mich ungemein, daß du an dem Jardim des plantes soviel Gefallen findest; ich bitte dich, die bemerkenswerthesten Formen nicht bloß zu sehen, sondern, wenn du es irgend kannst, die architektonische Festigkeit und Form der Pflanze aufzusuchen und dir zu notiren. Die Naivetät der Composition ist oft bewundernswürdig, und ich für mein Theil glaube, daß es, um sich in Verzierungen immer reizend zu bewegen, ganz nothwendig ist, einige Einsicht in botanische Formen zu haben; wenn eine Darstellung aus noch so vielerley Gegenständen zusammengesetzt werden kann, so ist die eigentliche Totalform doch ein Gewächs.“ (Anm. 11)
In Bezug auf die Stickmuster schrieb Runge bereits am 28. Dezember 1807 an Gustav Brückner, einem jungen angehenden Mediziner: „Auch sage ich Dir, daß ich die Blumen, die du mir schickst, und die ich wegen der botanischen Deutlichkeit brauchbar fände, nicht (in Beziehung auf die Stickerey) auf’s äußerste auszuführen brauche, sondern nur so weit, wie es das Muster erfordern würde, da nämlich in der Stickerey durch die große und freye Behandlung der Effect hervorgebracht wird. Denn es sollte mir leid seyn, wenn über den conventionellen botanischen Kennzeichen, die doch nur Register sind, nicht weit lebendigere Gestaltungen und Analogien der Form dich angezogen hätten. Diese lebhafte Beweglichkeit in den Formen der Blumen und Gewächse, die von ihrer ersten Keimung bis zur Reife der Frucht wie ein Epos darin sich offenbart, ist der genaue Zusammenhang, der durch die analoge Veränderung der vier Tages- und Jahreszeiten sie mit unserem eignen Leben, Wachsen und Würken in Verbindung bringt, […].“(Anm. 12)

Peter Prange

1 Vgl. HS I, S. 237.
2 Böttcher 1937, S. 177, und S. 300.
3 Traeger 1975, S. 435, Nr. 419.
4 Traeger 1975, S. 437, Nr. 429. Vgl. auch Böttcher 1937, dort S. 295 als „Pflanzenstudien für Stickereien“ bezeichnet.
5 Zitiert nach Traeger 1975, S. 437.
6 Vgl. dazu Lange 2010, S. 132-134.
7 Jensen 1977, S. 122.
8 Blätter und Blüten der Kresse, Bleistift, Feder in Grau, 225 x 320 mm, Frankfurt, Städel-Museum, Inv. Nr. 15714, vgl. Traeger 1975, S. 435, Nr. 418, Abb.
9 Vgl. HS I, S. 237.
10 Lange 2010, S. 134.
11 Brief vom 13. Juni 1809 an Klinkowström, vgl. HS I, S. 176.
12 Brief vom 28. Dezember 1807 an Gustav Brückner, vgl. HS I, S. 238-239.

Details zu diesem Werk

Feder in Schwarz auf gräulichem Papier 253mm x 318mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1932-139 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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