Hendrick Goltzius, Zeichner

Kadmus vor dem Orakel in Delphi, um 1590

Die Hamburger Kunsthalle besitzt vier der insgesamt neun erhaltenen Goltzius-Entwürfe zu den „Metamorphosen“ des Ovid, die um 1590 als Teil der dritten Folge in seinem Atelier gestochen, aber erst 1615 von Robert Willemsz. de Baudous herausgegeben wurden.(Anm.1)
Drei Blätter erzählen die Geschichte des phönizischen Königssohnes Kadmus (Metamorphosen 3, 6–94). Auf der Suche nach seiner von Zeus entführten Schwester Europa befragte er das Orakel des Apoll in Delphi (Inv-Nr. 1926-226). Gemäß der rätselhaften Anweisung folgte Kadmus der ersten Kuh, die ihm über den Weg laufen sollte, um dort, wo sie sich niederlegen würde, die Stadt Theben zu gründen. Dies ist dargestellt im linken Hintergrund der Zeichnung. Nachdem seine Gefährten auf der Suche nach Wasser von einem Drachen getötet wurden (Inv.-Nr. 1926-227), erlegte Kadmus das Untier mit seiner Lanze (Inv.-Nr. 1926-228). Die vierte Zeichnung (Inv.-Nr. 1926-229) zeigt die selten dargestellte Szene aus dem vierten Kapitel der Metamorphosen (190–223): Apoll, der sich seiner Geliebten Leukothea nur in Gestalt ihrer Mutter nähern konnte, gab sich ihr nach dem Rückzug der Dienerinnen zu erkennen. Indes wurde das Stelldichein von der eifersüchtigen Clythie belauscht, womit der für das Mädchen tödliche Ausgang der Geschichte bereits angedeutet ist.
Reznicek sah in den Kadmus-Szenen einen Höhepunkt in der zeichnerischen Entwicklung vor der Italienreise des Künstlers.(Anm.2) Verglichen mit dem frühesten Metamorphosen-Entwurf „Merkur tötet Argus“ von 1589 wirken Raumkonzeption und Figurenbildung reifer.(Anm.3) Die, verglichen mit dem im Vorjahr gestochenen „Großen Herkules“ (H. 143) gemäßigte und realistische Wiedergabe der Muskeln scheint die durch die Italienreise eingeleitete stilistische Wende bereits vorwegzunehmen. Darüber hinaus sind Eleganz und dekorative Ausführung ein Hinweis auf das vermutete Bestreben des Künstlers, die Qualität der bis dahin vorhandenen Ovidillustrationen zu heben.(Anm.4) Einen derartigen Anspruch verrät auch die literaturgetreue Umsetzung bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit der ikonographischen Tradition. So zitiert Inv.-Nr. 1926-228 den Holzschnitt Bernard Salomons zu der Ovid-Ausgabe von 1557, der auch anderen Künstlern als Vorlage diente.(Anm.5) Auch der Kupferstich Leon Davents nach Primaticcio wurde verarbeitet (B. 42), und die Landschaft verrät Kenntnis der entsprechenden Radierung Antonio Tempestas (B. 660).(Anm.6) Motive wie der durch das Künstlermonogramm hervorgehobene Stein vorne rechts – Hinweis auf den ersten gescheiterten Kampf mit dem Drachen – folgen hingegen direkt der Erzählung Ovids.
Für die Begegnung zwischen Apoll und Leukothea ließ sich der Künstler offensichtlich anregen von Pieter van der Borchts 1591 datierter Illustration der Szene, womit die von Reznicek vorgeschlagene Entstehung nach den Kadmus-Darstellungen bestätigt wäre.(Anm.7)
Die auf Inv.-Nr. 1926-229 dargestellte Apollstatue variiert den „Apoll von Belvedere“, den Goltzius sicherlich schon vor seiner Italienreise in Reproduktionen kannte.(Anm.8)

Annemarie Stefes

1 E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, Nr. 99–104 und Nachtrag Nr. 100 a; E. K. J. Reznicek: Drawings by Hendrick Goltzius, Thirty Years Later. Supplement to the 1961 catalogue raisonné, in: Master Drawings 1993, S. 215-278, Nr. 98 a und 99 a; vgl. B. 71–73 u. 81; H. 50–52 u. 66; vgl. auch Sluijter 1990, S. 4 und Filedt Kok 1991/92, S. 218, Nr. P 6. Die vierzig Illustrationen zu den beiden ersten Büchern der Metamorphosen wurden 1589 und 1590 publiziert. Zu diesem Projekt – geplant waren 300 Illustrationen, ausgeführt wurden jedoch lediglich 52 – vgl. E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, S. 73–74 und S. 194–197, Eric Jan Sluijter: ‚Herscheppingen' in prenten van Hendrick Goltzius en zijn kring I, in: Delineavit et Sculpsit 4, 1990, S. 1-23 und Jan Piet Filedt Kok: Hendrick Goltzius - Engraver, Designer and Publisher 1582-1600, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 42-43, 1991/92, S. 159-218, S. 176.
2 E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, Bd. 1, S. 269; stilistisch anzuschließen an das 1590 datierte „Midasurteil“ in New York, The Pierpont Morgan Library, Inv.-Nr. I, 228, ebd. Nr. 107; vgl. ebd. S. 194.
3 Besançon, Musée des Beaux-Arts et d’Archéologie, Inv.-Nr. D 267, E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, Nr. 99; vgl. ebd. S. 73–74.
4 Eric Jan Sluijter: ‚Herscheppingen' in prenten van Hendrick Goltzius en zijn kring I, in: Delineavit et Sculpsit 4, 1990, S. 1-23, S. 13–14.
5 Vgl. Eric Jan Sluijter: ‚Herscheppingen' in prenten van Hendrick Goltzius en zijn kring I, in: Delineavit et Sculpsit 4, 1990, S. 1-23, S. 16; vgl. ebd. Abb. 1–4; die Ähnlichkeit mit der Hintergrundszene des 1588 datierten Stiches nach Cornelis van Haarlem
(H. 310), von Royalton-Kisch, in: Ger Luijten, Ariane van Suchtelen u.a.: Dawn of the Golden Age, Ausst.-Kat. Amsterdam, Rijksmuseum, Zwolle 1993/94, S. 358 erwähnt, erklärt sich wohl eher aus der von beiden Künstlern als Vorlage benutzten Illustration Salomons.
6 Vgl. Royalton-Kisch, in: Ger Luijten, Ariane van Suchtelen u.a.: Dawn of the Golden Age, Ausst.-Kat. Amsterdam, Rijksmuseum, Zwolle 1993/94, S. 358. Die Radierungen Tempestas wurden erst 1606 in Buchform publiziert, waren aber sicherlich schon vorher verbreitet und bekannt, vgl. Eric Jan Sluijter: ‚Herscheppingen' in prenten van Hendrick Goltzius en zijn kring I, in: Delineavit et Sculpsit 4, 1990, S. 1-23, S. 3, 15 und 22, Anm. 37, im Gegensatz zu E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, Bd. 1, S. 194, der Tempestas Einfluss für ausgeschlossen hielt.
7 „P. Ovidii Nasonis Metamorphoses, Argumentis Brevioribus …“, Antwerpen 1591, S. 105, vgl. Eric Jan Sluijter: ‚Herscheppingen' in prenten van Hendrick Goltzius en zijn kring I, in: Delineavit et Sculpsit 4, 1990, S. 1-23, S. 22, Anm. 37; vgl. E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, S. 271.
8 Z. B. den Stich von Agostino Veneziano (B. 329). Vgl. Aurelia Brandt: Goltzius and the Antique, in: Print Quarterly 18, 2001, Nr. Heft 2, S. 135-149, S. 146–147 und Stolzenburg, in: Die Masken der Schönheit. Hendrick Goltzius und das Kunstideal um 1600, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2002, S. 102 u. 114.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun, braun laviert, mit weißer Deckfarbe gehöht auf graubraunem Papier; Griffelspuren; Reste von Einfassungslinien (Feder in Braun) 167mm x 252mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1926-226 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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