Philipp Otto Runge

Die Lehrstunde der Nachtigall, 1801

Der früheste Nachweis von Runges Beschäftigung mit der „Lehrstunde der Nachtigall“ (Anm. 1) stammt vom 7. November 1801, als Runge an Böhndel eine Skizze sandte: „Von einem Stücke, welches ich dieser Tage entworfen, findest du hierin eine kleine Skizze. Der Gedanke ist eine Nachtigal, die ihre Jungen singen lehrt, nach Klopstock. Es ist nicht allein die Nachtigall, es ist, siehst du, Psyche, Amor seine Frau, die noch so einen kleinen hat; was müssen das nicht Jungen seyn!“ (Anm. 2) Die Anregung zu dem Thema gab Klopstocks 93., 1775 entstandene Ode „Die Lehrstunde“ (Anm. 3), deren Verse, welche die Nachtigallenmutter ihrem Kind als Anweisung zum Singen mitteilt, Runge unter der Zeichnung wiedergibt: "Flöthen mußt du! Flöthen! Bald / mit stärkerem bald mit immer / leiserem Laute, bis sich verliehren die Thöne, Schmettern dann, daß es die / Wipfel des Waldes durchhallt. Flöthen / mußt du! Bis sich bey den Rosenknospen / verliehren die Thöne." Runge gibt den Text nicht wörtlich wieder – so wiederholt er das „Flöten“ gleich im ersten Vers statt im Vierten, statt „durchrauscht“ heißt es bei Runge „durchhallt“ -, sondern aus dem Gedächtnis, wie er ihn bereits in Hamburg gehört hatte (Anm. 4). Die Erinnerung an Klopstocks Ode veranlasste Daniel zufolge „in Dresden die Entwerfung dieses Bildes, des eigentlich ersten, daß er in Farben ausgeführt hat. Es ist ein Oval, innerhalb eines viereckten Rahmens, auf welchem letzteren Figuren wie in braunes Holz geschnitzt erscheinen. – In dem Bilde selbst sitzt die Nachtigal, als große weibliche Gestalt mit Schmetterlingsschwingen, in hochblauem Untergewande, in der Biegung eines starken Eichenbaums, und vor ihr auf einem leichten Zweige das geflügelte Amorskind mit zwei Pfeifen in den Händen. Links weiter unten schläft in einem Federkissen, wie in einem Reste, noch ein zweytes Knäblein.“ (Anm. 5)
Als früheste erhaltene zeichnerische Dokument dieser Auseinandersetzung mit Klopstocks Versen gilt Inv. Nr. 1926-130, in der Runge das Thema mit dem Psyche-Motiv mythologisch umdeutete. Die einfache Umrisszeichnung zeigt Psyche auf einem Schemel sitzend, die mit ihrer Rechten einen zwei kleine Flöten spielenden Amorknaben hochhält, den sie mit ihrer erhobenen Linken ermahnt. Das Blatt steht noch in der Tradition des Klassizismus – Berefelt hat nicht zu Unrecht auf den Einfluss von Ferdinand Hartmanns „Psyche“ in Stuttgart hingewiesen (Anm. 6) -, doch zeigen sich im anmutigen Charakter der Szene und der Zartheit der Zeichnung bereits Anklänge des Empire. Runges Interesse am Psyche-Amor Mythos wurde möglicherweise durch die Konzertabende bei Fredericke Brun in Kopenhagen geweckt, wo er auch auf Angelika Kauffmanns Beschäftigung mit dem Mythos aufmerksam geworden sein könnte (Anm. 7). Insbesondere ihre 1790 entstandene Zeichnung, auf der Amor mit seinem Flötenspiel die in Todesschlaf versunkene Psyche weckt, könnte – wenn auch unter entgegengesetzten inhaltlichen Vorzeichen – motivisch eine Anregung für Runge gewesen sein. (Anm. 8)
Isermeyer (Anm. 9) und nach ihm Schümann (Anm. 10) haben es für möglich gehalten, dass das vorliegende Blatt mit demjenigen Identisch ist, das Runge im November 1801 an Böhndel geschickt hatte, doch wahrscheinlich gehörte es zu „den Zeichnungen, die er uns gewohnterweise zu Weihnachten sandte“, darunter „auch die ersten Entwürfe zu seiner ‚Lehrstunde der Nachtigall‘“. (Anm. 11) Während die an Böhndel gesandte Zeichnung als verschollen gelten muss, hat Berefelts Annahme, das vorliegende Blatt gehöre zu den an Weihnachten übersandten Blättern, aufgrund seiner Provenienz aus Runges Verwandtschaft viel Wahrscheinlichkeit.
Die Montierung auf schwarzem Glanzpapier, die Runges Entwurf zur zweiten Fassung des „Triumph des Amor“ (vgl. Inv. Nr. 1926-129) entspricht, dürfte von ihm selbst stammen. Die Montierung zusammen mit dem Scherenschnitt eines bogenschießenden Amor (Inv. Nr. 1926-135) verweist auf den persönlichen Hintergrund des Projekts, das ähnlich wie der „Triumph des Amor“ von der beginnenden Liebe zu Pauline Bassenge getragen wurde.

Peter Prange

1 Die Lehrstunde der Nachtigall, zweite Fassung, Öl/Lw, 104,7 x 85,5 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. 1009, vgl. Traeger 1975, S. 369-370, Nr. 301, Abb.
2 Brief vom 7. November 1801 an Böhndel, vgl. HS I, S. 223.
3 Vgl. Klopstock. Oden, Friedrich Gottlob Klopstock. Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Band I, Text, Berlin-New York 2010, S. 351.
4 Vgl. HS I, S. 222.
5 HS I, S. 222-223.
6 Christian Ferdinand Hartmann, Psyche, 1797, Öl/Lw, 114 x 97 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Inv. Nr. 1997, vgl. Berefelt 1961, S. 222.
7 Bettina Baumgärtel: Lasset die Kindlein zu mir kommen. Anglika Kauffmann und Philipp Otto Runge., in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 2009, S. 201. Zur Rolle Friederike Bruns bei der Transformation des Amor-Psyche-Mythois vgl. auch Christiane Holm: Die römische Arbeit am Mythos von Amor und Psyche. Friederike Bruns Beitrag zwischen Archöologie und Mythobiographie, in: Rom – Europa. Treffpunkt der Kulturen: 1780-1820, hrsg. von Paolo Chiarini/Walter Hinderer, Würzburg 2006, S. 309-346.
8 Angelika Kauffmann, Amor weckt mit seinem Flötenspiel die in Todesschlaf versunkene Psyche, Bleistift, Pinsel in Grau, 100 x 129 mm, Frankfurt am Main, Freies Deutsches Hochstift, Frankfurter Goethemuseum, vgl. Baumgärtel 2009, S. 202, Abb. 6.
9 Isermeyer 1940, S. 127.
10 Schümann, in: Kat. Hamburg 1969, S. 277.
11 HS II, S. 460.

Details zu diesem Werk

Feder in Grau über Bleistift; montiert zusammen mit einem weißen Scherenschnitt ("Bogenschiessender Amor", Inv. Nr. 1926/135, Richter Nr. 2); Glanzpapier fest montiert auf Papier 175mm x 112mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1926-130 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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