Gérard (auch: Girard) Audran, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder

Tod des Ananias, um 1700

Kurz vor 1700 fertigte der irische Maler Charles Jervas kleine Kopien nach den Teppichkartons Raffaels, die damals in Hampton Court bewahrt wurden. Diese Arbeiten gelangten nach Paris, wo sie Gérard Audran als Vorlagen für druckgraphische Reproduktionen gedient haben. (Anm. 1) Möglicherweise war geplant, den gesamten Zyklus umzusetzen, doch kamen letztlich nur Das Opfer in Lystra, Die Schlüsselübergabe
und die hier vorliegende Szene Der Tod des Ananias zum Abschluss. Sämtliche Blätter zeichnen sich durch stattliche Größe sowie eine kraftvolle und lebendige Wiedergabe aus. Charakteristisch für Audrans Interpretation ist eine Weichheit der Gesamtwirkung, die an venezianische Malerei erinnert, aber auch den damaligen Tendenzen des römischen Kunstkreises im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts entsprach. (Anm. 2) Hier mag der Einfluss Carlo Marattas erkennbar sein, in dessen Atelier Audran zeitweilig tätig gewesen ist.
Dargestellt ist eine dramatische Szene aus der Apostelgeschichte. Ananias hatte seinen Acker zum Wohle der Kirche verkauft, aber einen Teil des Erlöses für sich behalten. Daraufhin wurde er von Petrus der Lüge gegen Gott beschuldigt, worauf er zu Boden stürzte und verstarb (Apg. 5, 1–5). Das Zentrum der Komposition bildet die Gruppe um Petrus, der mit ausgestrecktem Arm auf Ananias weist. Die Apostel strahlen Kraft und Festigkeit aus, wohingegen bei den Menschen im Vordergrund angesichts des gerade sich vollziehenden Gottesgerichts große Unruhe und Verwirrung herrscht.
Audran gab die Hauptfiguren der Komposition relativ genau wieder. Die Szene erscheint gegenüber dem Karton seitenverkehrt, wodurch sie aber dem Bild auf dem gewebten Teppich entspricht. Bemerkenswert ist, dass sich Audran markante Eingriffe in die räumliche Gestaltung erlaubt. Wesentlich ist, dass er die Komposition deutlich in die Höhe streckt. Dadurch sind die hinter den Aposteln befindlichen Vorhänge erheblich gelängt und auch Landschaft und Fenster im Hintergrund erhalten mehr Raum. Im Ergebnis verlieren die Apostel und Ananias dadurch etwas von ihrer von Raffael meisterhaft inszenierten bildlichen Präsenz. (Anm. 3)
Unabhängig davon setzte diese Reproduktion mit den bereits erwähnten zwei anderen Drucken Maßstäbe in der graphischen Auseinandersetzung mit den Teppichen. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte es wenige Reproduktionen des Themas, beispielsweise von Ugo da Carpi und Agostino Veneziano, gegeben. Diese genügten allerdings um 1700 in ihrer zwar wirkungsvollen, aber sehr vereinfachten Wiedergabe nicht mehr den veränderten Ansprüchen der Kunstkenner. (Anm. 4)
Für Audran bildete die Beschäftigung mit Teppichen den krönenden Abschluss einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Werk Raffaels. Der in Lyon gebürtige Künstler hatte sich von 1667 bis 1670 in Rom aufgehalten und im Auftrag des französischen Königs zahlreiche Kopien nach Raffael angefertigt. Diese sollten als Druckgraphiken Studienmaterial für herangehende Künstler bieten. (Anm. 5) Tatsächlich gab Audran nach seiner Rückkehr aus Italien mindestens zwei größere Serien mit Sockelfiguren der Stanza di Eliodoro (Anm. 6) und Amoretten in den Zwickeln der Farnesina (Anm. 7) heraus. Als Audran kurz vor seinem Tod die Teppiche reproduzierte, tat er dies als einer der anerkanntesten französischen Stecher seiner Zeit. Die Ananias-Szene verlegte Audran selbst, wobei er auf ein königliches Privileg verweisen konnte.
David Klemm

LIT (Auswahl): Robert-Dumesnil 9 (1865), S. 261, Nr. 18; Kolloff 1878, S. 406 und S. 409, Nr. 29; Gramaccini/Meier 2003, S. 82, Nr. 4 (Beitrag Hans Jakob Meier); Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 110, Nr. 34

1 Vgl. Clayton 1997, S. 49; Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 110.
2 Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 133.
3 Kolloff sah auch allgemein einen beträchtlichen Abstand zu den Vorlagen, was er auf das hohe Alter des Stechers zurückführte; vgl. Kolloff 1878, S. 406.
4 Gramaccini/Meier 2003, S. 82.
5 Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 52–53 und S. 154–155.
6 Ebd., S. 52–53, Nr. VI.1–13.
7 Ebd., S. 154–155, Nr. 22–35.

Abgekürzt zitierte Literatur:
Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985
Grazia Bernini Pezzini, Stefania Massari, Simonetta Prosperi
Valenti Rodinò: Raphael invenit. Stampe da Raffaello nelle collezioni dell’Istituto Nazionale per la Grafica, Rom 1985

Clayton 1997
Timothy Clayton: The English Print 1688-1802

Gramaccini/Meier 2003
Norberto Gramaccini, Hans Jakob Meier: Die Kunst der Interpretation. Französische Reproduktionsgraphik 1648–1792,
München, Berlin 2003

Kolloff 1878
Eduard Kolloff: „Audran, Gérard“, in: Allgemeines Künstler-Lexikon, hrsg. v. Julius Meyer, Bd. 2 , Leipzig 1878, S. 405

Robert-Dumesnil 1-11/1835-1871
Alexandre.-P.-F. Robert-Dumesnil: Le Peintre-graveur français,
ou catalogue raisonné des estampes, gravées par les peintres
et les dessinateurs de l’école français. Ouvrage faisant suite au
peintre-graveur de M. Bartsch, 11 Bde., Paris 1835-1871

Ausst.-Kat. Brescia 2020
Raffaello. L’invenzione del „divino pittore“, hrsg. v. Roberto
D’Adda, Ausst.-Kat. Brescia, Museo di Santa Giulia, Mailand
2020

Details zu diesem Werk

Kupferstich, Radierung 544mm x 688mm (Bild) 594mm x 725mm (Platte) 628mm x 778mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 19247 Sammlung: KK Druckgraphik, Frankreich, 15.-18. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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