Anonym (niederländisch?, 16. Jh.), Zeichner/in

Maria mit Kind und Johannesknaben, 1575 - 1590

Diese Zeichnung galt in der Kunsthalle als deutsche Arbeit des 16. Jahrhunderts, bis sie von Peter Prange 2006 aus dem deutschen Bestand ausgegliedert und in den weiteren Umkreis des Jan van Scorel gesetzt wurde. In der Tat begegnen verwandte Figurentypen auf der „Anbetung der Könige“ der Van Scorel-Werkstatt.(Anm.1) Die Zeichnungen Van Scorels bieten allerdings keinen direkten stilistischen Anknüpfungspunkt.(Anm.2)
Grundsätzlich könnte auch das recht grobe Papier auf einen Niederländer mit Italien-Erfahrung verweisen, ebenso wie das Madonnen-Motiv. Verglichen mit verwandten Arbeiten niederländischer Romanisten aus den 1550er Jahren deuten Eigenschaften wie der kleiner proportionierte Kopf der Jungfrau mit dem klassischen Profil, der schlichte Faltenwurf und die Dreieckskomposition auf eine spätere Entstehung – wohl im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts.(Anm.3) Vergleichbare Frauentypen, allerdings deutlich schlanker proportioniert, begegnen bei Lambert Suavius und Lambert Lombard.(Anm.4) Noch näher kommt die Hamburger Zeichnung einigen Werken Anthonie Blocklandt van Montfoorts (1533–1583), z. B. einem 1583 datierten Gemälde an unbekanntem Standort oder einer Zeichnung in Paris.(Anm.5) Angesichts der klaren Linienführung – die Konturen werden durch den von der Pinselzeichnung abweichenden Farbton betont – wäre auch ein Zusammenhang mit einer gestochenen Darstellung denkbar. Mit einigen Stichen nach Blocklandt bestehen durchaus enge Gemeinsamkeiten, z. B. in der Schattierung der ovalen Gesichter.(Anm.6)
Die Zuordnung in den weiteren Umkreis Blocklandts wird möglicherweise auch bestätigt durch die ebenfalls zu beobachtende Nähe zu Arbeiten Parmigianinos (1503–1540), den Blocklandt Van Mander zufolge bewunderte.(Anm.7) Alternativ wäre ein Zusammenhang mit der Schule von Fontainebleau in Betracht zu ziehen.(Anm.8) Gewisse Bezüge bestehen darüber hinaus zu Arbeiten des aus Antwerpen stammenden Gillis Coignet (1542–1599), der sich nach einer Italienreise und einem längeren Aufenthalt in Amsterdam 1595 in Hamburg niederließ.(Anm.9)

Annemarie Stefes

1 Utrecht, Centraal Museum, Inv.-Nr. 23542, Kunst voor de Beeldenstorm. Noordnederlandse kunst 1525-1580, hrsg. von Jan Piet Filedt Kok, W. Halsema-Kubes, Wouter Th. Kloek, 2 Bde., Ausst.-Kat. Rijksmuseum, Amsterdam, 's-Gravenhage 1986, Abb. 34.
2 Vgl. „Steinigung des Hl. Stephanus“, Paris, Fondation Custodia, Inv.-Nr. 4612, Karel G. Boon: The Netherlandish and German Drawings of the XVth and XVIth Centuries of the Frits Lugt Collection, 3 Bde., Paris 1992, Nr. 184.
3 Vgl. je eine „Caritas“ des Jan van Hemessen, Aukt.-Kat. London, Christie’s, 3. 12. 1997, Nr. 50; Aukt.-Kat. New York, Sotheby’s 22. 5. 1997, Nr. 177; vgl. zwei Gemälde des Vincent Sellaer: „Caritas“, Aukt.-Kat. Amsterdam, Sotheby Mak van Waay, 29. 4. 1985, Nr. 98, „Heilige Familie“, 1956 Kunsthandel Rapps, Stockholm.
4 Für Suavius vgl. Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 20879; für Lombard: „Diana“ (Gemälde), London, Sammlung A. Kauffmann, De Triomf van het Manierisme. De Europese stijl van Michelangelo tot El Greco, Ausst.-Kat. Rijksmuseum, Amsterdam 1955, Nr. 76.
5 Aukt.-Kat. New York, Christie’s, 25. 1. 2002, Nr. 11; „Engelchor“, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 21007; vgl. auch dessen Zeichnung „Jesus segnet die Kinder“ in Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. Z 981.
6 Vgl. Philips Galle nach Blocklandt, H. 139, H. 159, H. 227.
7 Karel van Mander: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler (von 1400 bis ca. 1615), übersetzt und hrsg. von Hanns Floerke, München 1905, S. 232: „Seine Frauenköpfe in Profil und Vorderansicht beweisen, dass ihm die Art des Parmegiano, die er sehr nachzuahmen trachtete, sehr gefiel“. Vgl. Stiche nach Parmigianino von Giulio Bonasone, B. 125.57, 124.55; Diana Scultori, B. 438.12 a; vgl. auch eine Kopie nach Parmigianino, „Maria mit Kind, dem Johannesknaben und einem Lamm“, London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1905,1110.57.
8 Vgl. die Arbeit eines wohl niederländischen Primaticcio-Nachfolgers: „Caritas“, Rijswijk, Instituut Collectie Nederland, Inv.-Nr. NK 2628 (Leihgabe Maastricht, Bonnefantenmuseum), oder Stiche nach Primaticcio, Peter Smith: Fontainebleau: l’art en France 1528-1610, Ausst.-Kat. Ottawa, National Gallery of Canada, Ottawa 1973, Abb. 53, 59 und 95 und Zeichnungen wie dessen „Minerva“ in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 8562.
9 Stich von Johannes Wierix, H. 169; Gemälde „Diana und Callisto“, Budapest, Szépmüvészeti Múzeum, Inv.-Nr. 59.2, Anne-Claire de Liedekerke, Dominique Allart, Hans Devisscher: Fiamminghi a Roma 1508-1608. Artistes de Pays-Bas et de la Principaute de Liege a Rome a la Renaissance, Ausst.-Kat. Brüssel, Palais des Beaux-Arts, Rom, Palazzo delle Esposizioni, Gent 1995, Nr. 70.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun, Pinsel in Grau 190mm x 151mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1921-50 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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